Ein gefährliches Ablenken vom politischen Versagen
Mit der Insolvenz der beliebten Maulklinik in Ingolstadt wächst die Unsicherheit, welche Auswirkungen dies im Notfall nach sich ziehen wird. Jahrzehntelang bekamen Patienten dort schnelle Hilfe – nun fällt diese wichtige Stütze wohl weg. Vor allem die Notaufnahme am Klinikum ist oft am Limit und kann häufig niemanden mehr aufnehmen, so dass die Sanitäter gezwungen sind, mit Patienten nach Neuburg oder in andere Nachbarstädte auszuweichen.
Doch notwendige Einsparungen in der medizinischen Versorgung sind kein regionales Spezifikum. In dieser Lage sorgt ausgerechnet der Vorstandschef der Sana-Klinikgruppe, Thomas Lemke, für einen Tabubruch. Er schlägt vor, in Anbetracht der hohen Gesundheitskosten bestimmte Leistungen für alte Menschen nicht mehr zu finanzieren: „Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, ob wir in jeder Lebensphase, in der die Menschen sind, ….diesen am Ende der Tage vollumfänglich Medizin zukommen lassen“. Wohl wissend wie brisant seine Vorschläge sind, wirft der Klinikchef die Frage auf, ob Hochbetagte weiterhin alle medizinischen Leistungen kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen sollten.
2003 hatte der damalige JU-Vorsitzende Philipp Mißfelder mit einem ähnlichen Vorschlag einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, Talkshows und Leitartikel standen wochenlang im Zeichen dieser Debatte. Zwei Jahrzehnte später klingt Lemkes Forderung kaum weniger zynisch – doch sie wird weitgehend hingenommen. Das zeigt, wie sehr sich der Wertekompass offenbar verschoben hat.

Geteilte Generationen
Wie wirtschaftlicher Druck Alt gegen Jung ausspielt
Nicht nur in Ingolstadt, sondern in Deutschland insgesamt sind die enormen finanziellen Herausforderungen und die steigenden Steuer- und Abgabenlasten besorgniserregend. Darüber hinaus fehlt es allerorten an Fachkräften – sei es im Pflegebereich, Kinderbetreuung, Gastronomie oder Verkauf. Da lässt die Forderung vom Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratscher aufhorchen: er fordert ein verpflichtendes soziales Jahr für alle künftigen Rentnerinnen und Rentner. Er wirft der Generation der Älteren „zu viel Ignoranz, Selbstbezogenheit und Naivität“ vor. Auch hätten die Babyboomer zu wenig Kinder bekommen. Das führe dazu, dass bald nur noch zwei Beitragszahler einen Rentner zu versorgen hätten, anstatt wie in den sechziger Jahren sechs Beitragszahler. Er ignoriert dabei wohl bewusst die Tatsache, dass viele Beitragszahler wegen Rationalisierung von Arbeitsplätzen wegfallen. Auch wenn sein Vorstoß von den Gewerkschaften und dem Sozialverband Deutschland scharf kritisiert wird, steht Fratscher mit seiner Forderung nicht alleine da. Auch der Soziologe und Generationsforscher Klaus Hurrelmann hat ebenfalls ein verpflichtendes soziales Jahr für Senioren am Ende ihres Arbeitslebens gefordert. Eine weitere Befürworterin ist die ehemalige Familienministerin Christine Schröder. Sie geht sogar so weit zu behaupten, dass die Rentnergeneration an fehlender Infrastruktur, Klimawandel und Migration schuld sei und sie die Probleme, die sich seit mindestens 20 Jahren auftürmen den Jüngeren einfach „vor die Füße kippen“.
Befürworter dieser Idee sehen den Vorteil darin, dass damit der Fachkräftemangel besonders in Pflege und im sozialen Sektor abgefedert werden könnte. Es drängt sich die Idee auf, dass es nicht nur darum geht die Lücken, die vor allem durch schlechte Bezahlung im Pflegebereich bedingt sind, mit Rentnern stopfen zu wollen. Aber es hat den Anschein, dass es um weit mehr geht. Die Mittel werden knapp und man möchte das Problem durch das Aufwiegeln der Generationen gegeneinander verlagern.
Auch für fehlenden Wohnraum gibt es eine Lösung: Oma soll umziehen
Zu dieser Strategie passt auch die provokante Überschrift in der SZ: „Oma soll umziehen“. Knapp 10 Millionen Menschen in Deutschland leben in überbelegten Wohnungen. Klar birgt diese Misere sozialen Sprengstoff. Die versprochene Anzahl neu gebauter Wohnungen wurde nicht einmal in Ansätzen erfüllt und die Zahl der Sozialwohnungen ist seit 1990 von drei Millionen auf eine Millionen gesunken. Gleichzeitig leben Menschen in viel zu großen Wohnungen. Dazu zählen auch einige alte Menschen, deren Lebensumstände sich im Laufe der Zeit – Kinder aus dem Haus und kein Partner mehr – verändert haben. Es ist ein populistischer Versuch vom politischen Versagen abzulenken und diese Gruppe alter Menschen in Fokus zu nehmen, ohne dabei die emotionalen und sozialen Faktoren zu berücksichtigen. Klar wäre für jeden die passende Wohnraumgröße sinnvoller. Allerdings verbinden alte Menschen mit dem Lebensraum häufig wichtige Erinnerungen. Auch ist es für sie schwierig sich im fortgeschrittenen Alter neu zu orientieren oder gar neue soziale Netzwerke, auf die man gerade im gebrechlichen Alter unbedingt angewiesen ist, wieder aufzubauen.
Kommentar:
Die Suche nach Sündenböcken ist eine BankrotterklärungOb steigende Gesundheitskosten, Fachkräftemangel oder Wohnungsknappheit – statt Probleme zu lösen, werden die Älteren als Mitverursacher gesellschaftlicher Probleme dargestellt. Diese Sichtweise greift zu kurz und lenkt von den eigentlichen Ursachen ab.
Wenn ein Klinikchef öffentlich über eingeschränkte medizinische Leistungen für Hochbetagte nachdenkt oder Wirtschaftsexperten Rentner zu Pflichtdiensten verpflichten wollen, stellt sich die Frage, ob hier noch um Lösungen oder schon um Sündenböcke gerungen wird.
Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen lassen sich nicht lösen, indem man Generationen gegeneinander ausspielt. Entscheidend ist, Strukturen in Pflege, Wohnungsbau und Arbeitsmarkt zu verbessern. Mit der populistischen Problemverlagerung gefährdet man den moralischen Kern unserer Demokratie.
Eine solidarische Gesellschaft misst sich am Umgang mit Schwächeren.
Fotos: freepic
