Die letzte Runde – Litfaßsäulen im Stadtbild

Sichtbar, aber kaum noch wahrgenommen: Warum die Litfaßsäule mehr über unsere Gegenwart verrät, als man denkt.

Sie steht da, als wäre sie immer schon da gewesen. Zwischen Kopfsteinpflaster und Altstadtfassaden trägt sie ihre papierne Haut aus Ankündigungen, Versprechen und Vergänglichkeit: die Litfaßsäule. In Ingolstadt, irgendwo zwischen Eiscafé und Kirchturm, trotzt sie dem Regen, während die Stadt an ihr vorbeiströmt – den Blick aufs Smartphone gerichtet.

Die Litfaßsäule ist ein Relikt aus einer Zeit, als Öffentlichkeit noch nach Leim roch. Sie war Anschlagbrett, Nachrichtenbörse, Schaufenster der Stadt. Heute wirkt sie wie das Gegenteil des Algorithmus: kein Tracking, kein Targeting, kein Like-Button. Nur Papier, Farbe und Wind.

Während entlang der Straßen LED-Tafeln blinken und Banner über Fahrbahnen hängen, steht sie einfach da – wortlos, ohne Strom, und sagt doch mehr über die Stadt als jedes digitale Display.

Und doch stellt sich die Frage: Fallen Litfaßsäulen im öffentlichen Raum überhaupt noch auf?
Sie sind sichtbar, aber kaum noch wahrgenommen – ein Paradox der Gegenwart. Das Auge sieht sie, das Bewusstsein übergeht sie. Der öffentliche Raum ist längst zur Durchgangszone geworden, die Stadt selbst zum Hintergrundrauschen.

Wer aber stehen bleibt, liest hier das echte Leben: Kabarett, Ausstellung, Volksfest, Jazzabend. Keine globale Werbung, kein digitaler Filter. Die Litfaßsäule bleibt das analoge Gedächtnis der Stadt – ein Stück Öffentlichkeit, das man anfassen kann.

Oder fallen sie den Menschen im wirklichen Leben gar nicht mehr auf – stehen sie einfach nur noch rum?

Vielleicht ist das die eigentliche Frage: Nicht, ob Litfaßsäulen überleben, sondern ob wir selbst noch hinsehen.
Ob wir unsere Städte noch wahrnehmen – ihre Geräusche, ihre Zeichen, ihre leisen Mitteilungen. Zwischen Lieferverkehr und Bildschirmlicht geraten die alten Formen der Öffentlichkeit in Vergessenheit. Doch wer sich bückt, um ein Plakat zu lesen, entdeckt darin mehr als Werbung: eine Spur von Leben, das nicht auf „Teilen“ wartet.

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