Wie Ingolstadt zur Stadt wurde
Der Münchner Archäologe Dr. Jochen Haberstroh vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege zählt zu den profiliertesten Kennern der mittelalterlichen Stadtarchäologie in Bayern. Als langjähriger Mitarbeiter der Bodendenkmalpflege verbindet er akribische Grabungserfahrung mit überregionalen Fragestellungen zur Stadtentstehung. In seinem gestrigen Vortrag beim Historischen Verein Ingolstadt machte er anhand vieler Beispiele deutlich, wie sehr archäologische Befunde unser Bild mittelalterlicher Städte verändern – besonders am Beispiel Ingolstadts.
Stadtgründung – kein Akt, sondern ein Prozess
Wenn wir an mittelalterliche Stadtgründungen denken, haben wir meist ein klares Bild vor Augen: Ein Herrscher verleiht Stadtrechte, Mauern werden errichtet, ein Markt entsteht – und schon ist eine Stadt geboren. Die archäologische Forschung zeigt jedoch ein deutlich komplexeres Szenario. Städte entstanden selten auf einen Schlag. Vielmehr waren sie das Ergebnis langer Entwicklungsprozesse, in denen ältere Siedlungen, Verkehrswege, wirtschaftliche Funktionen und politische Interessen ineinandergreifen mussten.
Gerade in Altbayern spielte die Territorialisierung der Wittelsbacher eine zentrale Rolle. Städte dienten als Verwaltungszentren, wirtschaftliche Knotenpunkte und sichtbare Zeichen von Herrschaft. Doch längst nicht jede geplante Stadt setzte sich durch. Manche Orte stagnierten, andere verschwanden wieder vollständig von der Landkarte.

Ingolstadt: Warum hier eine Stadt entstand
Warum aber gelang ausgerechnet Ingolstadt der Aufstieg zur Stadt? Die Antwort liegt tief im Boden verborgen. Archäologische Befunde belegen hier bereits früh einen Königs- bzw. Herzogshof („Ingoldestat“), also einen politischen und wirtschaftlichen Zentralort.
War Ingolstadt also von Anfang an als Stadt geplant?
Gerade diese Frage lässt sich klar verneinen. Die Funde sprechen weniger für eine Stadtgründung „auf dem Reißbrett“ als für eine schrittweise Verdichtung eines bestehenden Zentralortes. Herrschaft, Verwaltung und Verkehr bildeten zunächst den Kern, erst später folgten städtische Strukturen. Die Lage an der Donau, nahe wichtiger Fernstraßen, begünstigte diese Entwicklung erheblich. Handel, Kontrolle und Versorgung ließen sich hier bündeln – eine Voraussetzung, an der viele andere Gründungsorte scheiterten.
Umbau statt Neuanfang
Besonders aufschlussreich sind Grabungen im Bereich des heutigen Rathausplatzes. Dort zeigen sich im Boden mächtige Umstrukturierungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Dunkle, humose Schichten – sogenannte „Dark-Earth“-Zonen – deuten auf Abbruch, Neubau und intensive Nutzung hin. Stadtwerdung bedeutete in Ingolstadt also nicht Neubeginn, sondern Umbau, Anpassung und Verdichtung.
Warum scheiterten andere Stadtgründungen, während Ingolstadt erfolgreich war?
Erfolgreich waren meist jene Orte, die mehrere Faktoren vereinten: politische Förderung, verkehrsgünstige Lage und eine wirtschaftliche Funktion über den lokalen Bedarf hinaus. Ingolstadt erfüllte all diese Bedingungen – viele andere Orte nicht.

Markt, Mauer und Gemeinschaft
Früh entwickelte sich in Ingolstadt ein Straßenmarkt, der den städtischen Raum prägte. Archäologisch zeigt sich hier ein klarer Schwerpunkt auf Handel – besonders am Salzmarkt –, während handwerkliche Produktion weniger dominant war als etwa in München. Gleichzeitig wuchs die Stadt als Gemeinschaftsprojekt. Wasserversorgung, Abfallentsorgung und Befestigung konnten nur kollektiv organisiert werden. Auch die Stadtmauer folgte dabei keinem monumentalen Ideal. Sie war funktional, oft hastig errichtet und unterfinanziert – aber sie markierte rechtlich und symbolisch den Status der Stadt.
Was verrät Archäologie über Ingolstadt, das Urkunden nicht zeigen?
Während Schriftquellen Gründungsdaten und Privilegien nennen, macht Archäologie den Alltag sichtbar: Bauphasen, Müllgruben, soziale Unterschiede, wirtschaftliche Schwerpunkte. Sie erzählt die Geschichte der Menschen, nicht nur der Herrscher.
Ingolstadt ist also kein Produkt eines einzelnen Gründungsakts, sondern das Ergebnis eines dynamischen mittelalterlichen Stadtwerdungsprozesses. Gerade diese langsame, manchmal widersprüchliche Entwicklung macht die Stadt archäologisch so spannend. Wer heute durch Ingolstadts Altstadt geht, bewegt sich über Jahrhunderte von Planung, Improvisation und Gemeinschaftsleistung – Spuren einer Stadt, die nicht erfunden, sondern gewachsen ist.
Grafiknachweis: Haberstroh, Jochen BLfD

