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Ein lautes Schweigen

Sexualisierte Gewalt ist Alltag. Hilfe gibt es – doch ohne klare Politik bleibt sie Glückssache 

Es braucht Mut, eine unsichtbare Mauer zu durchbrechen. Gisèle Pelicot hat das getan. Ihr Mann betäubte sie über Jahre hinweg und ließ Männer kommen, die seine wehrlose Frau vergewaltigten. Als sie das Ausmaß begriff, zeigte sie ihn und die Mittäter an und holte ein Verbrechen aus dem Verborgenen ins Licht. Viele schaffen diesen Schritt nicht. Sie schweigen – manchmal ein Leben lang. 

Schweigen hat viele Gründe

Es beginnt mit Scham und der systematischen Schuldumkehr: „Du wolltest es doch, du hast provoziert.“ Kinder haben für das, was ihnen geschieht, oft keine Sprache. Später zweifeln viele an der eigenen Erinnerung. Andere fürchten Konsequenzen, die Täter ihnen einbläuen: Man werde sie für verdorben halten, die Familie zerbricht, niemand werde ihnen glauben. Wer abhängig ist – emotional, finanziell, beruflich –, schweigt eher. Manche Täter sitzen in angesehenen Positionen. Gegen sie aufzubegehren erscheint aussichtslos. Übergriffe sind keine Entgleisungen, sondern Machtausübung. Erpressung verstärkt die Falle: intime Bilder, Abhängigkeiten, Drohungen. Und es gibt Taten, die erst durch Betäubung möglich werden – wie im Fall Pelicot. 

Ein Riss im System des Schweigens

Die #MeToo-Bewegung hat das Schweigen in Machtverhältnissen aufgebrochen. Sie gab vielen Worte und Öffentlichkeit. Aber die Mauer steht vielerorts noch. Aufmerksamkeit flammt auf und erlischt wieder, bevor Strukturen sich ändern. Zurück bleiben Betroffene, die sich täglich mit den Folgen arrangieren müssen. Jede Tat hinterlässt Spuren, die man nicht sieht, die aber Beziehungen, Arbeit und Vertrauen prägen. 

Die Zahlen dahinter

Die Zahlen machen das Ausmaß fassbar: Am 21. August wurde das Bundeslagebild 2024 zu Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen vorgestellt: 16.354 betroffene Kinder und 1.191 betroffene Jugendliche. Statistisch sind in jeder Schulklasse etwa zwei Kinder betroffen. Viele Taten geschehen im Nahfeld – genau dort, wo Loyalitäten, Abhängigkeiten und Scham am größten sind. Große Zahlen schockieren kurz, allerdings bleibt wenig Betroffenheit zurück, denn es gibt zu wenige Gisèles, die den Zahlen ein Gesicht geben und die den Menschen vor Augen führen, was tatsächlich hinter den Zahlen steckt, 
Jede dieser Taten hinterlässt aber Narben. Narben, die keiner sieht, die daher nicht nachvollziehbar sind, die aber den Alltag und den Umgang mit anderen Menschen stark beeinflussen. Daneben leiden viele von ihnen unter Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen oder Depressionen.

Wie also umgehen mit der Last der Schweigemauer?
Ein erster Schritt ist es dem Menschen, der es endlich riskiert sich zu öffnen und das Schweigen zu brechen, zuzuhören und das, was gesagt wird, ernst zu nehmen und zu glauben. Es darf niemals bagatellisiert werden: „das ist doch schon so lange her. Vergiss es doch endlich“
Selbstredend ist es gut, wenn man überhaupt mit jemanden über das Erlebte spricht. Allerdings braucht es in vielen Fällen mehr als ein vertrauliches Gespräch im Freundeskreis. Denn sexualisierte Gewalt ist nicht plötzlich weg wie Fieber nach der Genesung; sie hinterlässt seelische Wunden, die nicht verschwinden. Man kann nur lernen damit zu leben.  Professionelle Unterstützung macht den Unterschied: stabilisiert, sortiert, schützt und begleitet bei Bedarf auch bei Anzeige, Vernehmung und vor Gericht. 

 Wirbelwind in Ingolstadt und Umgebung

Eine gute Möglichkeit gibt es in Ingolstadt sich an den gemeinnützigen Verein „Wirbelwind“ zu wenden. Dieser wurde 1992 in Ingolstadt als Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt gegründet mit dem Ziel Beratung für Betroffene, Angehörige und Fachleute anzubieten. Hier finden Betroffenen empathisches, aber auch professionelles Gehör. Sie bietet eine adäquate Begleitung sich auf den oft langen Weg zu begeben, der keinem Standard entspricht und gerade deswegen oft so schwierig ist. Hier wird den Betroffenen bestätigt, dass die Schuld allein beim Täter und nicht beim Opfer liegt – unabhängig von Kleidung, Verhalten oder Beziehung. Sie erfahren psychologische, aber im Bedarfsfall auch rechtliche Unterstützung bis hin zu psychosozialer Prozessbegleitung. Jede Beratung ist absolut anonym.

Trotz hoher Opferzahlen und erheblicher Behandlungskosten bleibt die Politik auffallend zurückhaltend. Die Kosten des Nichthandelns sind diffus, die des Handelns sofort sichtbar. Politik reagiert in der Regel erst, wenn Nichthandeln teurer wird als Handeln – genau dort muss der Hebel ansetzen: Transparenz, verbindliche Standards, verlässliche Finanzierung und wirksame Kontrolle.

Das Schweigen wird gebrochen, wenn Betroffene realistische Chancen haben, geschützt und ernst genommen zu werden. Dafür braucht es klare Rahmenbedingungen. Die Mauer fällt mit jedem Gespräch, jeder Anzeige und jeder professionellen Begleitung, die verhindert, dass ein Leben am Schweigen festfriert. (HaGa)

Kontakt:
Wirbelwind Ingolstadt e. V., Am Stein 5, 85049 Ingolstadt
Tel. 0841 / 17353 • beratungsstelle@wirbelwind-ingolstadt.de  

Foto: freepic

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