Lenas andere Art die Welt zu sehen

Zwischen Reizüberflutung und Routine – das Leben im Spektrum

Die zehnjährige Lena liebt Mangas, nicht nur weil diese japanischen Comicfiguren spannende Abenteuer erleben, sondern auch, weil sie ihr helfen, sich zu orientieren. Lena ist Autistin. Es fällt ihr schwer, die Emotionen anderer Menschen zu verstehen. Mangas unterstützen sie dabei, denn die Gesichter zeigen sehr deutlich, ob jemand traurig, fröhlich oder wütend ist. Lena prägt sich diese Gesichtsausdrücke genau ein und vergleicht sie mit den Gesichtern ihrer Umgebung. Da diese Übersetzungsarbeit für sie sehr anstrengend ist, ist sie oft angespannt, was den Umgang mit anderen zusätzlich erschwert.

Kommunikation besteht jedoch nicht nur aus Mimik, sondern auch aus Tonfall und Betonung, die oft verraten, wie eine Aussage tatsächlich gemeint ist. Mit Ironie ist Lena wie viele Menschen im Autismus-Spektrum überfordert. Sie nimmt vieles wörtlich und kann mit bildhafter Sprache nichts anfangen.

Lena ist mit dieser Besonderheit nicht allein. Etwa ein bis zwei Prozent der Menschen in Deutschland sind vom Autismus-Spektrum betroffen. Heute gilt Autismus nicht mehr als Krankheit, sondern als neurobiologische Entwicklungsbesonderheit mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Der Begriff Spektrum verdeutlicht, dass es nicht den einen Autismus gibt, sondern vielfältige Formen mit unterschiedlicher Ausprägung.


Viele verschiedene Formen der Abweichungen mit einer Diagnose

Für Außenstehende ist Autismus oft schwer zu fassen. Manche Betroffene sprechen gar nicht oder nur wenig darüber, einige bemühen sich um Kontakte, andere können sich sehr gut ausdrücken und ihre Behinderung ist von außen nicht sichtbar. Wenn sie aber unter Stress geraten zeigen sie stereotype Bewegungen wie Schaukeln oder mit den Händen wedeln – ein Verhalten, das ihnen hilft, sich zu beruhigen oder zu regulieren.

Eine der häufigsten Auffälligkeiten betrifft die soziale Kommunikation und Interaktion. Bei manchen Kindern zeigen sich erste Anzeichen sehr früh: Sie vermeiden Blickkontakt, imitieren keine Laute und reagieren empfindlich auf Geräusche, Licht oder Berührungen.

Für Lena sind Rituale und feste Abläufe im Alltag sehr wichtig. Abweichungen davon stressen sie manchmal so stark, dass sie wütend wird oder sich zurückzieht. Es gibt aber auch Autisten, die eine ausgeprägte Unterempfindlichkeit zeigen und Sinneseindrücke kaum wahrnehmen.

Bei Lena fiel schon im Kleinkindalter auf, dass sie mit ihrer Puppe nicht typisch spielte, sondern sich nur für ein Detail – deren Haare – interessierte. 

Das Spektrum der kognitiven Fähigkeiten reicht von einer geistigen Behinderung über durchschnittliche bis zu überdurchschnittlicher Intelligenz. Es gibt Autisten mit außergewöhnlicher Wahrnehmungsgabe und Gedächtnisleistungen. Sogenannte Inselbegabungen in Mathematik, Musik oder Technik, wie sie im Film oft dargestellt werden, zeigen nur wenige. Aber viele Betroffene haben Sonderinteressen, in denen sie sich sehr gut auskennen. Sehr beliebt sind neben Mangas Dinosaurier und die deutsche Bahn. 

Wie könnte Lenas Leben weiter verlaufen? 

Ihre Ausprägung ist nicht sehr stark, sodass sie voraussichtlich ein weitgehend selbstständiges Leben wird führen können. Ihre Eltern erkannten früh die Anzeichen. Der Kinderarzt überwies sie an ein sozialpädiatrisches Zentrum. Nach eingehender Diagnostik bestätigte sich der Verdacht. Für die Eltern war das zunächst ein Schock, wie für viele, die nur das Beste für ihr Kind wollen und plötzlich mit vielen Ungewissheiten konfrontiert sind. Zum Glück fanden sie im Autismus-Kompetenzzentrum fachkundige Unterstützung. Wichtig war zunächst die psychologische Begleitung, um die Diagnose zu verarbeiten. Die Familie erhielt Beratung zur Alltagsstruktur, zu möglichen Hilfen und zu Anträgen. Auch der Austausch in einer Selbsthilfegruppe betroffener Eltern war hilfreich. Mit Ergotherapie und Schulbegleitung kann Lena heute eine Regelschule besuchen.

Manchmal wird Autismus erst im Erwachsenenalter erkannt. Hinweise können eine dauerhafte Überforderung in sozialen Situationen, starke Reaktionen auf Routineänderungen oder Hyperaktivität sein. Die Wartezeit auf Diagnosetermine beträgt in Deutschland derzeit oft bis zu zwei Jahre. Zudem ist die Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen nicht immer einfach. Hilfreich sind Hinweise aus der Kindheit, etwa Erzählungen oder alte Schulzeugnisse.

Autismus ist nicht heilbar. 
Doch mit geeigneter Therapie, Unterstützung und gesellschaftlicher Akzeptanz können viele Betroffene ihre Stärken entfalten, Schwierigkeiten abbauen und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen. Voraussetzung ist eine an ihre Bedürfnisse angepasste Umwelt, etwa durch klare Strukturen, Rückzugsmöglichkeiten und eine reizärmere Umgebung.

Hilfe und Beratung unter: www.autcom-obb.

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