Gegen das Vergessen
Die schrecklichen Taten der Nationalsozialisten dürfen nie in Vergessenheit geraten. Genau deshalb können Besucher im Audi museum mobile seit Mittwoch sieben Zeitzeugeninterviews ehemaliger Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs in einer neuen Medienstation anhören. Die KZ-Überlebende Helga Kinsky nahm als Ehrengast an der Eröffnung teil. Mit 14 Jahren war sie Häftling im Auto Union-Arbeitslager Oederan. Natürlich war sie nicht die einzige. Unter dem NS-Regime mussten tausende Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Häftlinge für das Audi-Vorgängerunternehmen Auto Union AG arbeiten.
„Wir fühlen Verantwortung für dieses Leid und wollen alles dafür tun, dass es nie vergessen wird und nie wieder passiert. Deshalb sollen all die schrecklichen Wahrheiten der Zeitzeugenberichte an jetzige und künftige Generationen weitergegeben werden“, betont Wendelin Göbel, Mitglied des Audi-Vorstands Personal und Organisation. Die Auto Union AG hatte ab Mitte 1944 sechs eigene Konzentrationslager nahe ihrer Fabriken in Zwickau, Chemnitz/Hohenstein-Ernstthal, Zschopau, Willischthal, Oederan und Leitmeritz betrieben, in denen 17.300 Zwangsarbeiter und 3.700 Konzentrationslager-Häftlinge arbeiten mussten – das macht etwa 45 Prozent der damaligen Belegschaft aus.
„Eine Aufarbeitung kann nur dann authentisch sein, wenn es vom Unternehmen selbst kommt. Deshalb haben wir die Interviews auch größtenteils selbst geführt – aus Respekt vor den Opfern. Mit den sieben Interviews ist es noch lange nicht getan. Wir arbeiten weiter und wollen für jedes Konzentrationslager mindestens einen Zeitzeugen finden“, meint Peter Kober, Kommunikation Audi Tradition.
Die Interviews
Zwei der Interviews waren Audi Tradition mit Unterstützung der KZ Gedenkstätte Flossenbürg und der Familie des ehemaligen Leiters der jüdischen Kultusgemeinde Regensburg, Otto Schwerdt, zur Verfügung gestellt worden: Otto Schwerdt selbst war im Lager Leitmeritz, Vinko Grzetic‘ (aus Kroatien) im Lager Zwickau. Audi Tradition selbst führte fünf Gespräche: Henri Bertrand (Frankreich) verbrachte knapp drei Jahre als Fremdarbeiter im Horch-Werk Zwickau und Alessandro Casagrande war über anderthalb Jahre als italienischer Kriegsgefangener im DKW-Werk Berlin-Spandau. Hana Malka und Hana Drori (beide aus Israel) und Helga Kinsky (Österreich) mussten als KZ-Häftlinge im Lager Oederan arbeiten.
Helga Kinskys bewegende Geschichte
Helga Kinsky war acht Jahre alt, als die Nationalsozialisten 1938 in ihre Heimatstadt Wien einmarschierten. Als Jüdin durfte sie nicht mehr zur Schule gehen, sich im Park sehen lassen oder mit ihren Freundinnen spielen. Nachdem die Familie ihr Café-Haus und somit die Lebensgrundlage verloren hatte, flüchteten sie in die damalige Tschechoslowakei. Ihrem Vater, einem hoch dekorierten Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs, gelang es einige Zeit lang seine Tochter zu schützen. 1943 wurden die beiden ins Ghetto Theresienstadt deportiert.
Ein Jahr später wurde Helga mit anderen Kindern nach Auschwitz gebracht: „Mein erster Eindruck in Auschwitz war eine unnatürliche Todesstille. Wir mussten uns in 5er-Reihen aufstellen und Josef Mengele schob uns mit dem Stöckchen nach links oder rechts. Viele von den Ankömmlingen wurden direkt vergast“, erinnert sich Helga Kinsky. Eine Woche später wurde sie ins Auto Union KZ Oederan verbracht, wo sie im Alter von 14 Jahren, etwa sieben Monate lang in einer Munitionsfabrik arbeitete: „Ein Zwölf-Stunden-Tag. Als einzige Mahlzeit gab es eine Suppe, die zum Kriegsende hin immer dünner wurde und Brot“.
Im April 1945 wurde das KZ Oederan schließlich befreit. Zusammen mit anderen Überlebenden wurde Helga Kinsky auf einem Viehwaggon nach Leitmeritz gebracht, von wo aus sie den restlichen Weg der Strecke nach Theresienstadt zu Fuß zurücklegen musste und dort direkt in Quarantäne gesteckt wurde. Das Warten auf überlebende Angehörige war vergeblich: Außer Helga, ihrem Vater und einer Cousine, kehrte niemand zurück. Insgesamt 63 ihrer Familienmitglieder waren während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslagern ermordet worden.
Nach dem Krieg reiste Helga Kinsky zu ihrer Mutter – ihr war es rechtzeitig gelungen zu flüchten – nach England. Dort besuchte sie eine Highschool und schließlich das College. In London lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann, einen jüdischen Deutschen, der sich im Nationalsozialismus nach Bangkok absetzen konnte, kennen. Eine Zeit lang lebten sie in Bangkok und Addis Abeba. 1957 kehrten sie nach Wien zurück.
Appell an die heutige Gesellschaft
Ihren Besuch in Ingolstadt, im Zeichen gegen das Vergessen, nutzte die heute 88-jährige Helga Kinsky auch dazu die Anwesenden zu mahnen: „Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Zeit machen mich traurig und besorgt. Ich kann nur warnen. Ausgrenzung, Hass und das Leugnen der Geschichte nehmen wieder zu. Aber es geht nicht mehr um meine Zukunft“.