Die Boomtown macht Pause – Einwohnerzahl gesunken
Das hat es zuletzt Mitte der 1970er Jahre gegeben: Die Einwohnerzahl von Ingolstadt sinkt! Das vergangene Jahr 2020 hat nach den vielen Jahren des Booms einen Bevölkerungsrückgang vorzuweisen. Die Zahlen präsentierte Helmut Schels, Leiter des Amts für Statistik, in der städtischen Pressekonferenz. Die sei eine ganz neue Entwicklung. Und sie habe verschiedene Ursachen.
Zum 31.12.2020 lebten rund 138.230 Einwohner in Ingolstadt. Das sind 486 Personen weniger als Ende 2019 im Einwohner-Melderegister der Stadt verzeichnet waren. Bis 2020 legte Ingolstadt allerdings ein sportliches Wachstum hin: Am 31.12.2011 lag die Einwohnerzahl in Ingolstadt laut Melderegister bei knapp 126.500 Personen.Um fast 12.000 Einwohner (knapp zehn Prozent) ist die Stadt in den letzten neun Jahren gewachsen. Das bedeutete ein durchschnittliches jährliches Wachstum von fast 1.400 Einwohnern oder etwa 1,1 Prozent.
Blickt man auf die Geburten, deren Zahl weiterhin sehr hoch ist und die Sterbefälle, so ist hier kein negativer Ausreißer in der Statistik zu erkennen. Wohl aber beim sogenannten „Wanderungssaldo“, also bei den Zu- und Wegzügen: Deutlich weniger Menschen als in den vergangenen Jahren verlegen ihren Wohnsitz nach Ingolstadt.
Das Amt für Statistik hat die Zahlen aufgeschlüsselt und teilt dazu mit: Es ist deutlich zu sehen, dass bis 2018 der Wanderungssaldo, also der Überschuss der Zuzüge über die Fortzüge, die wesentliche Komponente des Bevölkerungswachstums war. Ab 2014 war der Überschuss der Geburten über die Sterbefälle ein gewichtigerer Faktor als noch in den Jahren und Jahrzehnten davor. Im Jahr 2019 war der Wanderungssaldo nur noch knapp 300 Personen, etwa genauso hoch war auch der natürliche Saldo. Im Jahr 2020 dagegen war der Wanderungssaldo stark negativ (mehr Fortzüge aus Ingolstadt als Zuzüge in die Stadt). Der Überschuss der Geburten über die Sterbefälle betrug dagegen noch 204 Personen. Rein rechnerisch steht der Bevölkerungsveränderung von 138 716 im Jahr 2019 auf 138 230 im Jahr 2020 um -486 Personen ein Gesamtsaldo aus Wanderungen (-697) und natürlichem Saldo (+204) in Höhe von -493 Personen gegenüber. Die kleine rechnerische Differenz der Berechnungen ist systembedingt.
Zu- und Wegzüge
Bei der Entwicklung der Zu- und Wegzüge nach und von Ingolstadt zeigt sich folgende Entwicklung: Die Zu- als auch die Wegzüge stiegen von 2012 bis 2015 kontinuierlich von ca. 9 600 auf rund 11 800 (Zuzüge) bzw. von rund 8 000 auf gut 10 400 (Wegzüge) Personen an. Die Zuzüge blieben im Zeitraum von 2016 bis 2018 mit rund 12 000 Personen hoch, die Wegzüge bewegten sich zwischen 10 000 und etwa 11 000 Personen. Im Jahr 2019 gingen die Zuzüge gegenüber dem Vorjahr um rund 600 zurück, die Wegzüge dagegen nahmen um rund 400 zu, der Wanderungssaldo war nur noch sehr gering positiv. Im Jahr 2020 brachen die Zuzüge gegenüber 2019 um über 1 800 Personen auf knapp 9 500 ein, die Wegzüge nahmen nur um rund 850 auf ca. 10 200 ab, der Wanderungssaldo wurde mit rund -700 Personen negativ.
Geburten und Sterbefälle
Die Geburten stiegen nach 2012 von knapp 1 200 Kindern auf mittlerweile um 1 600 Kinder pro Jahr stark an. Da sich die Sterbefälle ab 2015 bis 2019 etwa um 1 250 Personen pro Jahr bewegten, entstand ein deutlicher Geburtenüberschuss oder positiver natürlicher Saldo. Dieser natürliche Saldo nahm 2020 etwas ab, da die Zahl der Verstorbenen erstmals mit 1 374 deutlich über die Marke von 1 300 Personen kam.
Bevölkerungsrückgang – kein Ingolstädter Phänomen
Wie sieht die Entwicklung der Einwohnerzahlen an anderen Orten aus? Hierzu ein Vergleich der bayerischen Großstädte von 100 000 bis unter 150 000 Einwohnern sowie der Landkreise der Region Ingolstadt: Die Zahlen, auf denen das nachfolgende Diagramm basiert, sind die amtlichen Daten des Bayerischen Landesamts für Statistik, jeweils zum Stichtag 30.09. für die Jahre 2018, 2019 und 2020. Die Bevölkerungszahl zum 31.12.2020 wurde noch nicht veröffentlicht, weshalb der Vergleich der drei Jahre jeweils auf den 30.09. geschoben wurde.
Nicht nur in Ingolstadt, auch in den anderen kleineren Großstädten in Bayern wie Regensburg, Würzburg und Erlangen brach das Bevölkerungswachstum 2020 ein: in Ingolstadt und Regensburg gab es von 2019 auf 2020 (jeweils 30.09.) leichte Rückgänge, in Würzburg sogar ein Minus von über 500 Personen, in Erlangen gab es faktisch kein Wachstum mehr im letzten Jahr. Lediglich in Fürth gab es kaum nennenswerte Rückgänge des Einwohnerzuwachses gegenüber dem Zeitraum September 2018 bis September 2019. Auch im Landkreis Eichstätt kam das seit Jahrzehnten übliche Bevölkerungswachstum fast zum Erliegen. Nur in den Landkreisen Neuburg-Schrobenhausen (sogar leichte Zunahme des Bevölkerungswachstums) und Pfaffenhofen (leichte Abnahme) kam es nicht zu gravierenden Veränderungen 2019/2020 gegenüber dem vorherigen Zeitraum 2018/2019.
Ursachensuche
Es gibt verschiedene Vermutungen oder sogar begründete Annahmen, warum die Bevölkerungsentwicklung 2020 ganz anders verlief, als man es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gewohnt war.
Dieselkrise und Antriebstransformation in der Automobilindustrie
Audi muss in den nächsten Jahren Personal abbauen. Den Anfang hat man scheinbar bei den Zeitarbeitsbeschäftigten externer Firmen gemacht: mehr als 1 700 Beschäftigte gab es zum 30.06.2020 weniger als noch ein Jahr zuvor (Arbeitsagentur Ingolstadt). Insgesamt nahm die Zahl der Beschäftigten in Ingolstadt von 2019 auf 2020 (30.06.) um über 3 000 ab. Das sind allerdings die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort Ingolstadt. In dieser Zahl sind auch viele Einpendler z. B. aus den umliegenden Landkreisen enthalten. Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort Ingolstadt nahmen von Juni 2019 auf Juni 2020 von knapp 63 000 auf 62 600 nur um rund 400 Personen ab.
Wirtschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie
Die Verlangsamung oder das Erliegen des Bevölkerungswachstums bzw. der Rückgang von Bevölkerungszahlen nicht nur in Ingolstadt, sondern in vielen der vergleichbaren Großstädte in Bayern und auch in Deutschland (Bevölkerung bleibt konstant wegen geringerer Nettozuwanderung, Pressemeldung Destatis vom 12.01.2020), deuten auf eine überregionale Ursache hin. Durch die Corona-Pandemie gab es in ganz Bayern und auch in Deutschland teils starke wirtschaftliche Einbußen. Zuwanderung basiert aber in erster Linie auf dem Bedarf an Arbeitskräften. Gleichzeitig waren 2020 Reisebeschränkungen in Europa wegen der Pandemie in Kraft.
Verzögerte oder unterbliebene An- und Abmeldungen bei den Einwohnermeldeämtern
Diese Ursache, die auf die eingeschränkten Öffnungszeiten der öffentlichen Verwaltungen zurückzuführen ist, wurde in den Medien genannt. Inwiefern dadurch die Bevölkerungszahlen an Qualität eingebüßt haben könnten, ist schwer zu beurteilen. Grundsätzlich müsste es aber dann die An- und Abmeldungen in ähnlicher Weise betroffen haben. Rückläufig waren in Ingolstadt aber hauptsächlich die Anmeldungen.
Korrekturen des Meldebestandes im Rahmen der Kommunalwahl 2020
In Ingolstadt wurden in den Monaten März und April im Rahmen der Versendung von Unterlagen zur Kommunalwahl sehr viele Einwohnerkorrekturen vorgenommen (Beseitigung von „Karteileichen“). Bei genauer Überprüfung der Zahlen durch das Sachgebiet Statistik und Stadtforschung stellte sich heraus, dass die sogenannten „Abmeldungen von Amts wegen“ in gleicher Größenordnung wie in den Vorjahren vorgenommen wurden, allerdings 2020 geballt in diesen beiden Monaten. Diese Ursache kommt deshalb wohl nicht in Frage.
Rückgang der Fluchtbewegungen nach Deutschland und Ingolstadt
Laut einer aktuellen Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Aktuelle Zahlen, Dezember 2020, nahm die Zahl der Asylanträge in Deutschland von 2019 mit rund 166 000 um 44 000 auf ca. 122 000 im Jahr 2020 ab (-26,5%). 871 Asylbewerber waren zum 31.12.2020 in Ingolstadt laut Sachgebiet Asyl des Sozialamtes gemeldet. Ein Jahr zuvor waren es noch 1 236 Personen (-365 Personen oder -29,5%). Das entspricht etwa dem prozentualen Rückgang in Deutschland. Hier liegt also ein direkt nachweisbarer Grund für den Rückgang der Bevölkerung in der Stadt.
Sicher ließen sich noch weitere mögliche Gründe finden, aber wie bei den oben erwähnten denkbaren Ursachen ist der tatsächliche oder auch nur der quantitative Nachweis empirisch nicht oder nur sehr aufwändig zu führen. Sehr wahrscheinlich spielen mehrere Ursachen eine Rolle (multikausal), die an unterschiedlichen Orten auch unterschiedliche Gewichtung haben (Würzburg hat z. B. kaum eine wirtschaftliche Basis in der Automobilindustrie, dafür aber viel Tourismus).
Wie wird sich die Bevölkerungszahl in den nächsten Jahren entwickeln?
Das Bayerische Landesamt für Statistik hat kürzlich die jährlich neu berechnete „Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung für Bayern bis 2039“ veröffentlicht. Ingolstadt würde demnach von 137 400 Einwohnern am 31.12.2019 auf 145 200 Personen bis 2039 anwachsen. Das Wachstum von 5,7% soll sich auf 1,5% durch die natürliche Bevölkerungsbewegung (mehr Geburten als Sterbefälle) und 4,2% durch Wanderungen (mehr Zuzüge als Wegzüge) aufteilen
Letztes Jahr rechnete das Bayerische Landesamt für Statistik noch mit einem Wachstum auf 147 000 Einwohner bis 2038. Interne Berechnungen der Stadtverwaltung gingen bislang auch von möglichen Szenarien eines stärkeren Bevölkerungswachstums aus.
Inwiefern sich diese Vorausberechnungen im Rahmen der Folgewirkungen von Corona- Pandemie, Restrukturierung der Automobilindustrie und nachlassender Zuwanderung nach Deutschland für Ingolstadt bewahrheiten, wird sich zeigen. Sicherlich sollte man die jetzige Situation mit mehreren Sonderentwicklungen und Krisen nicht als Normalfall der zukünftigen Entwicklung sehen. In den letzten 75 Jahren gab es in Ingolstadt immer wieder auch Jahre schwächerer oder rückläufiger Entwicklung. Wenn man einen etwas längeren Zeitraum betrachtet, ging die Entwicklung der Stadt hinsichtlich Einwohner- und Beschäftigtenzahlen doch immer wieder nach oben.
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