Ingolstädter Literaturtage 2025: Christina Clemm und Claudia Schumacher
Geschlechterhierarchie gestern und heute
Lena Gorelik, die vielfache Preisträgerin, fiel als Fleißer-Preisträgerin 2023 die Aufgabe zu, im Rahmen der Literaturtage ein Festival im Festival zu kuratieren. Bei ihrer Auswahl fokussierte sie Autorinnen, die Themen aufgriffen, die auch Marieluise immer wieder beschrieb: Geschlechterhierarchie, häusliche Gewalt und Einsamkeit. Deswegen lud sie am 11. April die Rechtsanwältin für Straf- und Familienrecht Christina Clemm und die Journalistin Claudia Schumacher ein.
Frau Clemm hat als Strafverteidigerin bereits Hunderte von Opfern geschlechtsspezifischer und/oder rassistischer Gewalt vertreten. Obwohl inzwischen tagtäglich ein (Ex)Partner eine Frau umbringt, wird dies kaum zur Kenntnis genommen und es erfolgt kein Aufschrei. Für Clemm liegt es in einem tief verwurzelten Frauenhass. Ihre Erfahrungen schrieb sie in dem Buch „Akteneinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt“ und in ihrer Streitschrift „Gegen Frauenhass“ nieder.

Claudia Schumacher studierte Journalismus und arbeitete unter anderem für die NZZ am Sonntag (Neue Zürcher Zeitung) und DIE WELT. Ihr Debütroman „Liebe ist gewaltig“ wurde für den aspekte-Literaturpreis sowie den Newcomerpreis des Havour Front Literaturfestivals nominiert. Im Rahmen der Hamburger Literaturpreise als „Buch des Jahres 2022“ und mit dem Literaturstipendium 2023 des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.
Für ihren Roman recherchierte sie intensiv über das Phänomen Gewalt in der Familie. Man glaubt, dass dies ein Problem ist, das vor allem unter Einwanderern und in prekären sozialen Schichten zu finden ist. Allerdings musste sie feststellen, dass familiäre Gewalt vielfach in Arzt- und Anwaltsfamilien anzutreffen ist. Die Erklärung liefert sie mit: In Frauenhäusern trifft man auf Frauen, die keine andere Zufluchtsstätte haben. Ganz anders ist es bei privilegierten Betroffenen. Auch haben die Frauen aus der Mittelschicht nicht nur den gehobenen finanziellen Status, sondern vor allem auch das gesellschaftliche Ansehen zu verlieren, daher schweigen sie aus Angst vor einem sozialen Absturz. In ihrem Roman Schumann ist eine solche Familie, in der die Tochter Juli von der väterlichen Gewalt betroffen ist. Der Vater erwartet von ihr gute Leistungen, denn sie tragen zum Ansehen der Familie bei. Allerdings darf sie dabei nicht den Vater übertrumpfen. Er muss der Chef bleiben. Sein Status verteidigt er ansonsten mit Gewalt.
Frau Clemm zeichnet aus ihren langjährigen beruflichen Erfahrungen harte Fakten:
Die Verurteilungsquote bei Sexualdelikten ist mit 5 Prozent denkbar niedrig und sie sinkt weiter. Man glaubt den Opfern nicht. Es ist schwer vorstellbar, dass DER ein Täter sein sollte. Die Gewalt mitten in der Gesellschaft macht Angst, daher hört man lieber weg. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass in jeder Schulklasse 3 bis 5 Kinder in einer von Gewalt betroffenen Familie aufwachsen.
Was hat sich seit Fleißer in den 100 Jahren geändert? Die geschlechtsspezifische Gewalt ist nicht nur geblieben, sie scheint sogar zu steigen. Das Einzige Positive ist, dass das Schweigen gebrochen wurde. Die Autorinnen sind sich einig, dass die Gewalt noch viel sichtbarer werden muss, damit allen klar wird, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. (HaGa)