Titelthema: Abtreibung gestern und heute – Was hat sich seit Marieluise Fleißer wirklich geändert
Im Jahr 1924 schildert Marieluise Fleißer in ihrem Erstlingswerk, „Fegefeuer in Ingolstadt“ die Probleme der 16-jährigen Olga, die ungewollt schwanger ist. Sie durchlebt Phasen der Hilfl osigkeit, fi ndet bei ihrem Vater keine Unterstützung, will ihr Leben im Wasser beenden, wird von einem Mitschüler, der mitbekommen hatte, dass sie zu einer Engelmacherin ging, erpresst. Die junge Schülerin wird in ihrem Zustand und mit ihren Sorgen vollkommen allein gelassen.
Wie würde es der Olga genau 100 Jahre später in Ingolstadt gehen? Falls sie kein Verständnis und/oder Unterstützung durch ihre Eltern bekäme, gäbe es auf alle Fälle Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, an die sie sich wenden könnte. Da wäre sie sicherlich gut aufgehoben. Allerdings, wenn sie sich dazu entschließen würde, die Schwangerschaft abzubrechen, fände sie in Ingolstadt und Umgebung weder eine entsprechende Arztpraxis noch eine Klinik für einen solchen Abbruch, denn alle lehnen einen solchen Eingriff aus „moralisch-ethischen Gründen“ ab. Das bedeutet für Betroffene, dass sie im Bedarfsfall lange Wege zurücklegen müssen. Die schlechte Versorgungssituation führt nicht nur der Bundesgesundheitsminister darauf zurück, dass der Eingriff eigentlich rechtswidrig ist und im Strafgesetzbuch geregelt wird. Folglich erscheint es widersinnig, für den rechtswidrigen Abbruch ein flächendeckendes Angebot bereit zu stellen. Die Kriminalisierung und Stigmatisierung der Betroffenen und Ärzte gefährdet also die Versorgungssicherheit und kann zu unsicheren Abbruchmethoden führen.
Sprengkraft des §218
Diskussion um einen Paragraphen aus dem vorletzten Jahrhundert
Die Bundesfamilienministerin Paus will den § 218, der seit 1871 existiert und um den es seitdem immer wieder heftige und kontroverse Diskussion gibt, gänzlich aus dem Strafgesetzbuch verbannen. Der Gegenstand erbitterter gesellschaftlicher und politischer Diskussionen ist vor allem auch der Streitpunkt, ob dem Recht des (ungeborenen) Kindes oder dem Selbstbestimmungsrecht der Frau Vorzug eingeräumt werden sollte. Die Bayerische Sozialministerin Scharf wirf Paus vor den Entscheid des Bundesverfassungsgerichts zu ignorieren, und sie kündigte an, gegebenenfalls dagegen zu klagen. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1993, dass es Aufgabe des Staates sei das Leben – auch das ungeborene zu schützen, daher gehöre der Paragraph in das Strafgesetzbuch. Es ist allerdings offen, wie das Bundesverfassungsgericht aktuell entscheiden würde, denn es gilt nicht nur das (ungeborene) Leben zu schützen, sondern genauso das Selbstbestimmungsrecht der ungewollt Schwangeren. Die momentane Regelung mache die Betreffenden zur Straftäterin, die nicht frei über ihren Körper entscheiden kann. Um straffrei einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen durchführen zu lassen, ist der Besuch in einer Beratung zwingend vorgeschrieben.
Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen auch in Fragen der Familienplanung
Ein historischer Rückblick zeigt, wie sehr es immer wieder um das Selbstbestimmungsrecht der Frau auch in Fragen der Reproduktion geht. Zuletzt stellte auch die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 fest: „Die Menschenrechte der Frau umfassen auch ihr Recht, frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt über Angelegenheiten im Zusammenhang mit ihrer Sexualität, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, zu bestimmen und frei und eigenverantwortlich entscheiden zu können.“ Zu den Ländern, die diese Menschenrechtskonvention noch nicht umgesetzt haben, zählt auch Deutschland. Daher hat 2023 das Bundesgesundheitsministerium eine „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ einberufen, um unter anderem vielleicht den §218 aus dem Strafgesetzbuch zu verbannen. Der Deutsche Juristinnenbund vertritt ebenfalls die Ansicht, man könne die gesetzliche Regelung auch ins Schwangerenkonfliktgesetz, das im Sozialrecht verankert ist, verlegen.
Auch der UN-Frauenrechtsausschuss hat die Bundesregierung aufgefordert, sich an den Richtlinien der WHO zu orientieren, die UN-Frauenrechtskonvention umzusetzen, den Abbruch zu entkriminalisieren, und den Zugang zum Abbruch sicherzustellen. Ein Gesetz – übrigens das einzige – bei dem es heißt „straffrei, aber illegal“, dient nur der Stigmatisierung und nicht der Prävention.
Auch, wenn die Positionen der katholischen Schwangerenberatungsstellen sowie die der pro familia in vielen Punkten unterschiedlich sind, besteht doch Einigkeit darüber, dass die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung der Frauen noch nicht umgesetzt wurde. Dies setzt auch die Stärkung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die Gleichstellung der Geschlechter voraus.
Das ist ein Artikel aus der aktuellen Print-Ausgabe…
Kommentar
Einseitige geschlechtsspezifische Diskriminierung
Auf die Komplexität der vielen Aspekte um §218 einzugehen, würde den Beitrag sprengen. Daher nur ein Gedanke: Kein Verhütungsmittel funktioniert 100-prozentig, daher wird es immer wieder zu ungewollten Schwangerschaften kommen. Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist sicherlich eine der schwierigsten Entscheidungen, vor denen eine Frau im Leben steht. Wenn der Erzeuger beschließt zu seiner Vaterschaft nicht stehen zu wollen, kann er einfach gehen, er muss lediglich für den Unterhalt aufkommen, aber er wird – anders als die Frau – meist nicht stigmatisiert und in jedem Fall nicht kriminalisiert. Es ist gut und wichtig flächendeckend Beratungsangebote vorzuhalten, aber man sollte diese nicht verpflichtend machen, sondern den Frauen auch in diesem Punkt die Selbstbestimmung zugestehen. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn Männer in der Situation wären, niemand auf die Idee käme sie zu einer Beratung zu verpflichten.
Bildinformationen
- young-pretty-woman-holding-pregnancy-test-with-unhappy-view: EugenePetrunin/Freepik