Diskussionskultur: Und willst du nicht mein Bruder sein, …..
Stellen Sie sich vor, Sie sind beim 70. Geburtstag Ihrer Patentante Berta eingeladen. Es ist ein schönes Familienfest und alle freuen sich, mit der Jubilarin zu feiern. Im Laufe des Tages redet man über dies und jenes und irgendwann fällt auch eine Bemerkung zur aktuellen Situation und bis man sich versieht, werden auch der Ukraine-Krieg und die Waffenlieferung diskutiert. Die Gegner und Befürworter geraten in eine hitzige Diskussion. Argumente weichen Schlagworten und Zuordnungen: Man bezichtigt sich gegenseitig der Blauäugigkeit oder der Kriegstreiberei. Einige der Gäste sind redlich bemüht von der Diskussion abzulenken, um die Feierstimmung zu retten. Denn man hatte es gerade schon erlebt, wie tiefgreifend und spaltend solche Diskussionen sein können. So musste man es im Freundeskreis erleben, dass die Einstellung zur Corona-Impfung dazu geführt hatte, dass sich manche Familien so zerstritten hatten, dass sie auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Weg mehr zueinander gefunden haben, beziehungsweise auch nicht finden wollen. Diese kleine fiktive Szene steht symptomatisch für eine inzwischen weit verbreitete Diskussionsweise, die in allen gesellschaftlichen Kontexten um sich greift: Argumente weichen Herabwürdigungen und persönlichen Angriffen. In vielen Diskussionen geht es schon lange nicht mehr um Gedankenaustausch, sondern die Gesprächskontrahenten fühlen sich dem Gegenüber moralisch überlegen und argumentieren entsprechend herabwürdigend.
Schlagabtausch in sozialen Medien
Neben Ukraine-Krieg und Corona-Maßnahmen gibt es zahlreiche weitere Themen wie beispielsweise Genderdebatte, Klimawandel oder Heizungsgesetz die sich für hitzige Diskussionen anbieten und zwar nicht nur im persönlichen Umfeld. Vor allem in den sozialen Netzwerken finden viele heftigste Diskussionen statt. Die Wortwahl schlägt oft große Wellen und löst weitere emotionale Reaktionen aus, die häufig durchaus die Tatbestände der Beleidigung und/oder übler Nachrede erfüllen. Die Hemmschwelle ist letztendlich auch deswegen niedriger, weil man dem Gegenüber nicht in die Augen schauen muss und so gar nicht wahrnimmt, wie verletzend manche Äußerungen sind. Dies können wir auch in den einschlägigen Foren, die sich explizit mit Ingolstädter Themen beschäftigen, trefflich feststellen und sicher erfolgte bereits die eine oder andere Anzeige. Die Heftigkeit der Reaktionen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: So wähnt sich ein jeder im Alleinbesitz der Wahrheit. Diese Wahrnehmung wird auch dadurch genährt, dass man sich ausschließlich in dem Kontext bewegt, der die entsprechende Meinung bestätigt. Man ist nicht mehr am Diskutieren, sondern nur noch am Erklären, warum man Recht hat. Entsprechend findet kein Meinungsaustausch statt, sondern es wird nur noch belehrt, abgekanzelt oder in eine bestimmte Ecke gestellt.
Meinungsvielfalt in einer demokratischen Gesellschaft
Inzwischen meiden es viele Menschen nicht nur in sozialen Medien, ihre Meinung zu sagen, sondern halten sich überhaupt raus. Diese Zurückhaltung besonnener Köpfe ist allerdings ein herber Verlust für die Debattenkultur in unserer Gesellschaft. Eine pluralistische Gesellschaft basiert nicht nur auf gegenseitigem Respekt, sondern setzt eine bunte Lebensvielfalt und vielfältige Ansichten voraus, denn zur Meinungsfreiheit gehört auch Streitlust. Nur so ist eine Weiterentwicklung und Optimierung des Zusammenlebens möglich. Offensichtlich werden allerdings die Grenzen des Sagbaren immer enger. Statt zu diskutieren, um die Position des Anderen besser zu verstehen, sollten manche Menschen gar nicht zu Wort kommen. Zunehmend wird nicht nur darauf reduziert, wer bei einem Thema mitdiskutieren, sondern was überhaupt thematisiert werden darf. Daher warnte Wolfgang Thierse in einem Gastbeitrag in der taz „Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern gewesen“.
Kommentar
Kommentar
Diskussionen in sozialen Medien sind auch ein Dorado für gefühlte Wahrheiten und Emotionen. Was lässt sich gegen das persönliche Empfinden Einzelner sagen? Man kann diesen nicht widersprechen oder sie gar widerlegen. Sie entziehen sich jeder Überprüfung und sind bar jeder Logik. Und trotzdem müssen sie in einer Demokratie möglich sein. Nicht geduldet werden dürfen allerdings persönliche Angriffe und Diffamierungen.
Meiner Meinung nach ist das Internet mit seinen sozialen Medien ein wichtiger Beitrag für die Demokratie. Hier kann jeder und jede ohne Zensur seine Meinung kundtun. Gleichzeitig ist es aber auch eine Plattform, die für Halbwahrheiten, Unwahrheiten und gefährliche Ideologien. Manch einer wünscht sich, die Begrenzung dieser Verbreitungsmöglichkeiten. Allerdings wäre dies eine Zensur, die einer Demokratie zuwider läuft.
Karl Valentin stellte trefflich fest: „Wo alle dasselbe denken, da wird nicht viel gedacht.“ (HaGa)