„Hier atmet man ganz Europa!“ – Interview zum Ukraine-Krieg
„Hier atmet man ganz Europa!“
Dieses Zitat von Alexander Puschkin, dem russischen Nationaldichter, über Odessa ist wohl aktueller denn je seit am Montag die EU Kommissionspräsidentin mit dem ukrainischen Staatspräsidenten über eine Aufnahme in die Europäische Union telefoniert hat.
IN-direkt spricht unter dem aktuellen Eindruck des Einmarschs der russischen Armee in die Ukraine mit Dr. Johannes Hörner, Jahrgang 1953, seine Familie stammt aus der Nähe von Odessa. Er kam 1987 als einer der ersten Aussiedler aus der damaligen UdSSR mit seiner Familie nach Ingolstadt. Mit dabei ist auch Manuel Depperschmidt, Jahrgang 1984, Vorsitzender des BZA Nordwest und Vorstandsmitglied im Ortsverband Ingolstadt der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland.
IN-direkt: Herr Dr. Hörner, wie erleben Sie die aktuelle Situation?
Alle mit denen wir aus der Landsmannschaft sprechen sind entsetzt. Meine Frau hat zu Weinen begonnen, als sie vom Einmarsch erfahren hat. Das geht quer durch alle Generationen, auch die jüngeren von uns sind erschrocken. Wir haben ja viele Verbindungen, manche von uns sind mit Russinnen oder Russen verheiratet, das trifft so viele Familien.
Welche Erlebnisse und Informationen erreichen Sie aus Russland und der Ukraine?
Dr. Hörner: In Russland wissen sie aus den Staatsmedien fast nichts darüber. Viele Junge sind aber auf Facebook oder auf Youtube unterwegs und dort bekommen sie sehr viel mit. Sehr interessant, dass diese Kanäle bis heute noch nicht gekappt sind. Und trotz einer Gefängnisstrafe von mindestens 30 Tagen gehen Tausende auf die Straße zum Protestieren.
War die Entwicklung seit der Krimannektion für Sie absehbar oder hat es Sie eher überrascht?
Dr. Hörner: Eine sehr gute Frage! Nein, das haben wir so nicht erwartet, es war so auch nicht absehbar.
Die aktuelle Diskussion um eine Aufnahme in die EU, stellt dies gegenwärtig nur ein politisches Signal dar oder ist die Aufnahme sogar überfällig? Welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Meinung nach bei einer kurzfristigen Aufnahme?
Dr. Hörner: Ich sehe überhaupt keine Schwierigkeiten wegen einer Aufnahme. Für eine Aufnahme in die EU gibt es klare Kriterien, die muss ein Land ganz einfach erfüllen. Ein NATO Beitritt ist unserer Meinung nach etwas ganz anderes.
Herr Depperschmidt, Sie sind Vorsitzender im Bezirksausschuss Nord-West, es leben ja viele Gruppierungen unterschiedlichster Nationalitäten im Piusviertel. Welche Stimmungslage herrscht dort gerade?
Ich merke schon, dass zum Teil erste Ansätze von Feindseligkeiten in den sozialen Medien stattfinden, also Spaltungen für die wir keinen Anlass sehen und gegen die wir uns als Landsmannschaft auch wehren. Hier müssen wir rechtzeitig, auch z.B. im Rahmen des Migrationsrates gegensteuern.
Welche Möglichkeiten sehen Sie für Ingolstadt auf humanitärer Ebene, was kann die Bevölkerung leisten? Aktuell werden von hier aus ja gerade einige Hilfskonvois organisiert.
Manuel Depperschmidt: Da formieren sich tatsächlich etliche Aktionen und Angebote. Ganz wichtig ist auch die lokale Vorbereitung für diejenigen, die hier bald bei uns eintreffen. Mein Arbeitgeber die WISAG AG hat beispielsweise in Frankfurt ein ganzes Hotel für die geflüchteten Ukrainer angemietet. Das wäre in Ingolstadt sicher mit privater Unterstützung auch möglich. Wir als Landsmannschaft stehen aber für unbürokratische Hilfe, Dolmetscherdienste und weitere Unterstützung bereit, den Menschen die kommen einen Platz zu geben!
Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte am letzten Sonntag in der Sendung von Anne Will, Wladimir Putin sei unberechenbar. Wie entwickeln sich Ihrer Meinung nach die nächsten Wochen?
Dr. Hörner: Jeder Tag, den die Ukraine durchhält ist ein schlechter Tag für Putin: Immer mehr erfahren, was los ist. In Russland gibt es eine Online-Petition „Nie wieder Krieg“, die bereits heute morgen (Montag, 28.02., Anm. d. Red.) 983.000 Unterschriften gesammelt hat. Jeder, der in Russland deswegen auf die Straße geht ist ein kleiner Held!
Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch!
Ein Artikel aus der IN-direkt Print Ausgabe. https://issuu.com/in-direkt/docs/2022_kw_09_in-direkt-web