Jean-Pol Martin und die neuen Menschenrechte
Ein Beitrag aus der aktuellen IN-direkt Printausgabe
Jean-Pol Martin stellt ein „Mehr an Glück“ für die Menschen in den Fokus des Seins und des Handelns
In Ingolstadt ist Professor Jean-Pol Martin wahrlich kein Unbekannter. Als Bewohner der Altstadt und kulturinteressierter Vordenker sucht der emeritierte Professor gerne sowohl online in den sozialen Medien als auch auf der Straße beim Plausch oder einer von vielen Diskussionsrunden gerne die Öffentlichkeit. Besonders sein Konzept des „Lernens durch Lehren“ (LdL) hat ihn in der Welt der Pädagogik bekannt gemacht.
Jean-Pol Martin wurde 1943 in Paris geboren und kam 1969 nach Deutschland. Er studierte Deutsch und Romanistik, um Gymnasiallehrer zu werden. 1980 begann er an der KU Eichstätt Französischlehrer auszubilden und promovierte 1985. Nach seiner Habilitation 1994 wurde er 2000 zum Professor ernannt. Seit 2008 ist er in Ruhestand und kümmert sich u.a. um das Café International im Stadttheater.
Nicht erst seit den Reden von Stadtrat Christian Lange, wie erst kürzlich wieder in der Haushaltsdebatte, sind auch seine Gedanken zu einem neuen Wertesystem, welches die Grundbedürfnisse des menschlichen Seins und Wirkens abdeckt und leiten soll, auch einem breiteren Ingolstädter Publikum bekannt geworden. Denken, Gesundheit, Sicherheit, Soziale Einbindung, Selbstverwirklichung und Partizipation sowie Sinn sind die bestimmenden Grundpfeiler des Rahmenkonzeptes „Neue Menschenrechte“. (siehe Kasten)
Um ein besseres Verständnis zu bekommen haben wir bei Prof. Jean-Pol Martin nachgefragt.
Was genau hat es mit den „Neuen Menschenrechten“ auf sich?
Seit längerer Zeit besteht eine gewisse Unzufriedenheit mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 verfasst wurde, unmittelbar unter dem Eindruck der Schrecken des zweiten Weltkrieges und mit dem Ziel „nie wieder“. Im Vordergrund stand also der Schutz der Menschen, eine defensive Position. Heute, 74 Jahre später, herrschen andere, proaktive „Mindsets“. Der Mensch sucht nach wie vor nach Sicherheit, aber er spürt vor allem einen Drang nach der Realisierung seiner Wünsche und Fähigkeiten, er strebt nach Selbstverwirklichung. Er erkennt Bedürfnisse und möchte sie befriedigen.
Was ist das besondere im Vergleich zu anderen Konzepten?
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte findet ihren Ursprung in der Aufklärung und ihre Begriffe sind religiös und philosophisch geprägt. Dadurch entsteht ein Katalog von 30 Rechten, die inhaltlich oft diffus bleiben und schwer operationalisierbar sind, wie beispielsweise der Begriff der „Würde“, oder der „Freiheit“. Wenn man direkt an die Natur des Menschen mit seinen Bedürfnisse anknüpft, dann reduziert sich der Katalog auf 6 Bedürfnisse, die im Konzept der „Neuen Menschenrechte“ zu Rechten erhoben werden.
Gibt es ganz konkrete Anwendungsmöglichkeiten?
Jeder versteht die Bedeutung und erkennt, dass und wie er handeln muss, um diese Rechte einzufordern. Es ist ein politisches Programm, das auf ein DIN A5 Kärtchen passt. Wobei nicht das Bedürfnis selbst als Recht postuliert wird, sondern die Schaffung von Bedingungen, die die Befriedigung dieser Bedürfnisse ermöglichen. Die „Neuen Menschenrechte“ liefern einen Leitfaden, auf dessen Grundlage jeder Bürger prüfen kann, ob er unter den bestehenden Strukturen seine Bedürfnisse befriedigen, also glücklich sein kann. Ist es nicht der Fall, so muss er entsprechende Strategien entwickeln und sich engagieren, beispielsweise in seiner Kommune im Rahmen der Bürgerbeteiligung.
Wie sind Sie auf das Konzept gekommen?
Als ich zu Anfang der 80er Jahre meine Unterrichtsmethode „Lernen durch Lehren“ entwickelt und ihre Wirkung wissenschaftlich erforschte, stieß ich auf die Bedürfnispyramide von Maslow, die ich als Basis meiner ganzen Arbeit in den letzten 40 Jahren stellte. Maslow habe ich stark erweitert unter Zuhilfenahme der Glücksforschung, der Kognitionspsychologie und der Gehirnforschung. Nach der Pensionierung habe ich mich sehr intensiv mit der Geschichte der Philosophie befasst, insbesondere der Politischen Philosophie und mit den Menschenrechten. Diese schienen mir zu abstrakt und ich ersetzte sie durch die Grundbedürfnisse.
Und findet es auch Beachtung?
Es findet sehr großer Beachtung. Vor einem Jahr erschien ein Sammelband unter der Federführung von Simon Wilhelm Kolbe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpädagogik an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Inzwischen haben sich zahlreiche Gruppen gebildet, die das Konzept übernommen haben und Schulungen durchführen, insbesondere im sozialpädagogischen Bereich, z.B. der Jugendhilfe. Und auch in Ingolstadt haben wir das Glück, dass Christian Lange, Fraktionsvorsitzender der UWG-Stadtratsfraktion, sich jedes Jahr beim Aufbau seiner Haushaltsrede systematisch auf die Neuen Menschenrechte bezieht.
Foto: Christine Olma