Annette Lucks: von Marie zu Luise – eine Collage
Das Marieluise-Fleißer-Haus präsentiert vom 19. Oktober 2021 bis zum 30. Januar 2022 die neue Sonderausstellung „Annette Lucks: von marie zu luise – eine collage“.
Annette Lucks (geboren 1952 in Regensburg) widmet sich seit fast drei Jahrzehnten in Abständen den Schriften der Marieluise Fleißer, durchaus keine Liebe auf den ersten Blick, dagegen eine langsame Annäherung und zunehmende Vertiefung ihrer Fleißer-Kenntnis. Den Auftakt dazu bildet 1994 die Novellenedition „Ein Pfund Orangen und neun andere Geschichten“, erschienen bei Faber & Faber, begleitet von Lucks mit über hundert Pinselzeichnungen, gleichsam figurative Aphorismen, die von Anfang an als freie Assoziation intendiert waren und als Vignetten zu den Texten gesetzt wurden. Es geht bei dieser Auseinandersetzung nie um pure Illustration, sondern Impulse, die der Künstlerin durch die wiederholte Lektüre zufliegen und sich in autonomen Fantasien und Gedankenspielen verselbstständigen. Zu dieser Ausstellung entstanden erneut eigens gefertigte Werke, die ihren Zugang aus sich stets wandelnden Blickwinkeln auf Fleißer spiegeln und bereits durch ihre komplexe collagierte Gliederung veranschaulichen.
Lucks und Fleißer – eigentlich Antagonisten in ihrer Art – repräsentieren vollkommen unterschiedliche ästhetische Positionen. Auf der einen Seite die eher sparsame, klare, strenge Sprache (auch wenn diese hintergründige Dramatik verbirgt), auf der anderen Seite dynamische, surreale, heterogene Bildfelder und bewusst inszenierte, scheinbar ungelenke Linienführung, ergänzt durch pastosen und sinnlichen Farbkanon – ein verwirrendes und nicht unbedingt auf Anhieb zu dechiffrierendes Schauspiel und ein imaginativer Austausch, der Spuren aufgreift und ihre Übersetzung, ihre Verlagerung in ein anderes Medium bewerkstelligt. Die Ausstellung ist als fiktive Begegnung, wie ein Gespräch von Luise zu Lovise oder von Lucks zu Fleißer, von Fleißer zu ihrem Publikum, zur Öffentlichkeit, zu Leserin und Leser gedacht.
Dem kommt zugute, dass die Wurzeln der Künstlerin im weiteren postsurrealistischen Umfeld der Akademie der Bildenden Künste in München (sie studierte bei Mac Zimmermann) liegen, dass sie grundsätzlich zu Belletristik, Philosophie und Essayistik neigt. Als eingefleischte Leserin bleibt Lucks diversen Autoren und Autorinnen treu. Sie werden immer wieder zur Hand genommen und erneut untersucht und durchdacht.
Daher könnte man zunächst die figuren- und zitatenreichen Kompositionen als narrative Varianten, als Auswüchse konkreter Quellen lesen. Dabei sollte es aber nicht belassen bleiben. Denn die Szenarien verbieten den unmittelbaren Zugriff. Lucks verschleiert Motiv und Inhalt durch absurde, skurrile Agglomerate, durch divergierende Stoßrichtungen, die in der collagierenden Spaltung zusätzlich betont werden. Jeder Ausschnitt offeriert ein neues Bildfenster, metaphorische Bühnen, die uns einladen in den Garten der fantastischen Imaginationen der Malerin. So entstehen separate Räume, kleine Podien oder ‚Interieurs‘ von jeweils eigener Wertigkeit, wenn sich etwa auf der einen Seite die Radierung mit dunklem Liniengestrüpp befindet, daneben aber Leichtigkeit und koloristische Pracht dominiert. In Intervallen tauchen dann vielleicht eine zarte Pflanze, ein Tierchen auf, eine kaum wahrnehmbare Notiz die ihrerseits einen ästhetischen Kommentar einfügen. Dazwischen und darüber Girlanden und Bordüren, die verketten und verknüpfen. Es ist – und hier sind wir wieder bei Fleißer – ein Theatrum des Lebens, in all seinen Höhen und Tiefen, einschließlich von Traurigkeiten und Freuden, das Lucks beschwört.
In all diesen gekonnt verstrickten Komponenten, vom handschriftlichen Einwurf bis zur klassischen malerischen Geste, steckt ein erheblicher Grad an Abstraktion, an Transzendenz, denn das grundsätzlich ornamentale Wesen ihrer Bild-Geflechte dient dem Abstand und der Gegenüberstellung, gleichzeitig der Fokussierung auf ein Detail neben dem Moment des Entgleitens, des Verflüchtigens von täuschenden Gewissheiten. Abgesehen von unmittelbaren Bezügen scheinen andere kaum wahrnehmbare Berührungspunkte zu Fleißer auf, ein Verständnis, eine Übereinstimmung, die – weit ab von üblichen Interpretationsmustern – mehr in einer übergreifenden Atmosphäre anzusiedeln und in der Schwebe gehalten ist. Vielleicht verrät sich die Verbundenheit besonders im generellen Verweischarakter der Werke sowohl in der Literatur wie in der Kunst, die dem individuellen Eintritt mannigfaltige Möglichkeiten offeriert.
Darin liegen eben genau die Singularität und Besonderheit der Werke von Annette Lucks, die von namhaften Museen und Institutionen geschätzt werden. Dazu gehören die Bayerische Staatsgemäldesammlung München, die Sammlung Herzog Franz von Bayern, die Staatliche Graphische Sammlung München, die Bayerische Staatsbibliothek, die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt a. Main und Leipzig, die Städtische Galerie im Leeren Beutel Regensburg, das Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, die Sammlung Deutsche Bank und andere. 1980 erhielt Lucks ein DAAD Stipendium, 1998 eine Förderung der Prinzregent-Luitpold-Stiftung, im Jahre 2000 das Kunststipendium der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 2005 die Atelierförderung der Stadt München. Artist in Residence – Aufenthalte führten sie nach USA, Spanien, Österreich und Italien. Seit 1998 ist sie als Lehrbeauftragte an der Hochschule München / University of Applied Sciences sowie seit 2010 an der Universität Passau tätig.
Foto: Annette Lucks (Norbert Eberle)