Heute ist Tag des herzkranken Kindes: INterview mit einer Familie
Trotz eines schweren Herzfehlers, der bereits im Mutterleib diagnostiziert wurde, kämpft die sechsjährige Marie unermüdlich um ihr Leben. Mehrmals stand sie am Abgrund, doch ihre Entschlossenheit und die bedingungslose Unterstützung ihrer Eltern geben ihr die Kraft, weiterzukämpfen.
Marie ist ein absolutes Wunschkind. Ihre Eltern Ralph und Kathrin sind überglücklich, als sie den
positiven Schwangerschaftstest in der Hand halten. Sie malen sich die Zukunft mit ihrem ungeborenen Baby aus, schmieden Pläne, schwelgen in Vorfreude. In der 22. Schwangerschaftswoche steht der zweite große Ultraschall bei der Frauenärztin an. Kathrin wird mit den Worten entlassen, dass alles unauffällig ist. Drei Tage später hat sie einen Termin beim Pränataldiagnostiker in München – und plötzlich ist nichts mehr in Ordnung. „Die Ärztin hat geschallt, immer wieder um das Herz herum. Mir ist das gar nicht so extrem aufgefallen, meinem Mann schon“, erinnert sich Kathrin Lautenschlager. „Die Ärztin hatte einen Erstverdacht, hat einen Kollegen hinzugezogen, der diesen Verdacht bestätigt hat.“
Ärzte diagnostizieren schweren Herzfehler
Die werdenden Eltern erfahren, dass ihr Kind einen seltenen, sehr schweren Herzfehler hat, den sogenannten Truncus arteriosus communis. Bei diesem Herzfehler teilt sich während der Embryonalentwicklung des Herzens die große Schlagader (Truncus arteriosus) nicht richtig in die separate Aorta und den Pulmonalarterienstamm. Stattdessen bleibt eine große Arterie erhalten, die sowohl sauerstoffarmes Blut von der rechten Herzkammer als auch sauerstoffreiches Blut von der linken Herzkammer in den Körperkreislauf abgibt.
„Guter Hoffnung war ich ab diesem Zeitpunkt trotzdem nicht mehr, die weitere Schwangerschaft war ziemlich angespannt. Ich bin ab diesem Zeitpunkt ins Beschäftigungsverbot gekommen und wurde sehr engmaschig kontrolliert.“ Ralph und Kathrin ziehen sich zurück, versuchen die Diagnose zu verdauen. Im Januar 2018 kommt Marie mit 2800 g und 48 cm in München per Kaiserschnitt zur Welt. Mit gerade einmal zwei Tagen wird sie ins Herzzentrum verlegt, weil ihre Stresswerte angestiegen sind. „Das war für uns als Eltern unwahrscheinlich schwierig, weil wir bis dato noch die Info hatten, dass wir wahrscheinlich erstmal mit Marie entlassen werden, damit sie in Ruhe zuhause zunehmen kann, ehe sie operiert wird. Mein Mann hatte deshalb auch extra keine Elternzeit für den Zeitraum direkt nach der Geburt beantragt“, erinnert sich Kathrin Lautenschlager. Genau das stellt den frischgebackenen Papa vor Probleme. „Die Klinik selbst schreibt einen nicht krank, der Kinderarzt auch nicht, weil das Kind ja in der Klinik ist“, so der 47-Jährige, der trotz aller Widrigkeiten die ganze Zeit an der Seite seiner Tochter war. „Mein Arbeitgeber hat die Situation gut mitgetragen, leider mussten wir bei anderen Familien miterleben, dass das nicht selbstverständlich ist“, erläutert Maries Vater.
Gespräche über Worst Case
Zeit, ein gutes Stichwort. Normalerweise versucht man eine Herz-OP im Neugeborenenalter so lange wie möglich rauszuzögern, weil sie hohe Risiken birgt. In Maries Fall gibt es schon bald keine andere Alternative mehr. Ihr Baby ist noch keine Woche alt, als Ralph und Kathrin mit den Ärzten Gespräche über eine fünfstündige Operation, über Herz-Lungen-Maschinen und das richtige Verhalten im Worst Case führen. Marie steckt diese Operation, in der die Aortenklappe so gut es ging rekonstruiert wurde, gut weg, bekommt Medikamente gegen die Schmerzen. Drei bis vier Wochen nach der ersten Operation wird Marie erneut in den OP-Saal geschoben. Eine Herzkatheter-Untersuchung zeigt nämlich, dass die rekonstruierte Aortenklappe noch immer hochgradig undicht ist.
Unterstützung ambulant zu Hause
Marie wird 13 Wochen nach der Geburt mit drei Herzklappen, deutlich abgemagert und mit Nasensonde aus der Klinik entlassen. Zuhause greift der jungen Familie die gemeinnützige Organisation ELISA Familiennachsorge aus Neuburg unter die Arme. „Marie hat hochkalorische Nahrung bekommen und so gut und verlässlich zugenommen. Wir Eltern konnten in Ruhe in unsere neue Rolle reinwachsen und hatten mit der ELISA-Nachsorgeschwester stets eine kompetente Ansprechpartnerin an unserer Seite. Wir waren sogar so weit, dass immer mehr hochkalorische Nahrung durch Muttermilch ersetzt werden konnte und wir schon an das Ziehen der Nasensonde gedacht haben.“ Doch soweit kam es nicht: Marie trinkt immer schlechter, schreit die Flasche an. Alle vier Wochen, später dann zweiwöchentlich musste die Familie beim Kinderkardiologen vorstellig werden. Bei einer der Untersuchungen hieß es, dass es eine Engstelle gibt und die Ärzte deshalb einen Stent setzen wollen. Auch wenn die Krankenkasse eine Verlängerung der Nachsorge abgelehnt hat, hat sich die gemeinnützige Organisation aufgrund des immer schlechter werdenden Zustandes nicht zurückgezogen. Spenden haben das ermöglicht. Eine Entscheidung, die sich wenige Wochen später auszahlen sollte. Als die Nachsorgeschwester Christine Zwack Marie besucht, gefällt der Säugling ihr gar nicht, sie bittet die Eltern, im Herzzentrum vorstellig zu werden.
Die Ärzte in München stellen fest, dass es nicht gut um die Herzklappe bestellt ist. Maries Eltern haben sich dafür eingesetzt, dass die Herzklappe gerichtet wird, die Ärzte hingegen haben auf die hohen Risiken der Operation hingewiesen und sich für eine medikamentöse Behandlung ausgesprochen. Ziel der Ärzte war es, dass Marie weiterhin an Gewicht zunehmen kann, um so das OP-Risiko zu senken. Das Herzzentrum hat kein Bett für Marie frei. Am nächsten Tag kommt der erlösende Anruf: Marie soll noch am selben Tag stationär aufgenommen werden, um medikamentös eingestellt zu werden. Die kleine Familie macht sich auf den Weg nach München. Marie schreit während der gesamten Fahrt. Kurz bevor sie das Herzzentrum erreichen, verliert Marie das Bewusstsein und läuft blau an. Die Eltern rennen mit ihrem Baby auf dem Arm zur Kinderstation, plötzlich steht ein Großaufgebot an Ärzten um sie herum. Ihr Zustand lässt es nicht zu, dass ein MRT gemacht wird, Marie wird auf die Intensivstation verlegt. Allen Beteiligten ist klar, dass die Herzklappe jetzt ersetzt werden muss, um Maries Leben zu retten. Aufgrund der hohen Komplexität bitten die Ärzte um Bedenkzeit. Zur Überbrückung bis zur OP bekommt Marie ein noch nicht zugelassenes Medikament, um ihre Herzkammer zu stärken. „Uns war klar: Wenn unser Kind nicht schnellstmöglich operiert wird, wird es sterben. Als ich Marie in ihrem Bett liegen sehen habe, kamen kurz Zweifel, ob wir richtig entschieden haben, dass sie auf die Welt kommen durfte, obwohl sie so viel aushalten musste“, sagt die Mutter, die unwahrscheinlich froh darüber ist, dass Marie Teil ihres Lebens ist.
14-Stündige Operation
In der Folgewoche ist es endlich soweit: Marie wird operiert. Die Zeit im OP zieht sich ins Unermessliche: Insgesamt wurde das damals sechs Monate alte Mädchen 14 Stunden operiert. Ursprünglich waren fünf bis sechs Stunden für die OP angesetzt. Es ist früher Abend, als der Oberarzt die Eltern zum Gespräch bittet. Die Ärzte schauen ernst und betreten und erklären, dass sie versucht haben, die Klappe mit einer neuen Methode zu rekonstruieren, dieser Versuch aber gescheitert sei. Es sollte noch einige Sätze dauern, bis die Eltern endlich erfahren, dass ihre Tochter noch lebt, sich aber immer noch im OP befindet. Ralph und Kathrin erfahren, dass die Ärzte zwei Mal vergeblich versucht haben, die Klappe zu rekonstruieren. Deshalb disponieren sie spontan um und entscheiden sich im OP für eine Kunstklappe. Nur weil Maries Aortenklappe aufgrund ihres Herzfehlers so groß war, dass sie einem jungen Erwachsenenherz glich, hat die künstliche Klappe überhaupt reingepasst.
Wie durch ein Wunder benötigt Marie nach der OP keinerlei Unterstützung durch die Herz-Lungen-Maschine. Vier Wochen später kann sie nach Hause entlassen werden.
Mittlerweile ist Marie sechs Jahre alt und wurde insgesamt drei Mal am offenen Herzen und unzählige Male via Herzkatheter operiert. Bis heute lebt sie ohne vierte Herzklappe. „Marie zeigt uns mittlerweile recht deutlich, wenn es wieder Zeit für eine Herzkatheter-Untersuchung ist“, erklärt ihr Vater Ralph. „Kurz nach so einer Untersuchung macht sie unwahrscheinlich große Fortschritte. Sobald diese ganz ausbleiben, bzw. Marie Dinge, die sie schon mal konnte, vermeintlich wieder verlernt, wissen wir, dass es mal wieder Zeit für einen Krankenhausaufenthalt ist.“ Wegen der begrenzten Bettenanzahl im Herzzentrum und aufgrund des Personalmangels kann sich ein erneuter Eingriff hinziehen. Für die Eltern ist mental auch belastend, dass vereinbarte Termine kurzfristig, manchmal am selben Tag, wegen Bettenmangel abgesagt werden. „Das ist eine für alle Seiten unbefriedigende Situation“.
Auf einem guten Weg
Das, was Marie in so jungen Jahren erlebt hat, begleitet das zierliche Mädchen noch immer: Neue, unbekannte Situationen verweigert Marie häufig, aufgrund des Erlebten hat sie viele Ängste vor fremden Dingen. Ärztliche Untersuchungen sind bis heute ein Kraftakt. Vor allem Maries Mund war lange ein Tabu, ganz behutsam haben sich die Eltern auch an diese Thematik rangetastet. „Als Marie das erste Mal richtig am Tisch mitessen konnte, hatte dies schon viel von einem Festtag“, erinnert sich Kathrin Lautenschlager. Fortschritte erfordern viel Zeit und Geduld, „das Gute ist aber, dass es kontinuierlich nach vorne geht und Marie nicht aufgibt.“
Die Tatsache, dass Marie kein örtlicher Kindergartenbesuch ermöglicht wurde, nagt noch immer an den Eltern. „Das war das zweite Mal, wo wir uns gefragt haben, ob Marie jemals einen Platz in unserer Gesellschaft finden wird. Umso dankbarer sind wir, dass Marie in ihrem jetzigen Kindergarten herzlich willkommen und dort hervorragend aufgehoben ist.“
Die Familie hält weiterhin fest zusammen und kämpft für Marie um ein möglichst normales Leben. Therapiebesuche sind weiterhin fester Bestandteil im Leben der Familie „Wir als Eltern wägen natürlich in Rücksprache mit den Fachleuten ab, welches Ziel gerade wichtig ist. Denn allen Beteiligten ist wichtig, dass es nicht zu viel für Marie wird. Schließlich sollen die Therapieinhalte auf den Alltag übertragen werden. Und das funktioniert nur spielerisch und mit kontinuierlichem Üben. Dabei ist wichtig, die kindliche Motivation und Neugierde nicht zu verlieren, bislang klappt das sehr gut.“ Ralph und Kathrin lassen ihre Tochter ihren eigenen Weg und in ihrem eigenen Tempo gehen. „Es ist ein Prozess des Loslassens, für uns alle. Sie soll sich ausprobieren, schließlich möchten wir, dass Marie eine selbstständige, lebensfrohe, junge Frau wird.“
Quelle: ELISA Familiennachsorge e.V.
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