100 Jahre ungelöst
Rätsel um den Sechsfachmord am 31. März 1922 in Hinterkaifeck beleben den Mythos
Autor: Timo Schoch
Am Ende des zweieinhalbstündigen Rundgangs blickt Landkreisführerin Maria Weibl zurück. „Wir werden immer mehr“, sagt sie und lacht. Die Menschentraube, die ihr folgt, ist beständig angewachsen. Das ist keine Seltenheit. Denn die Rätsel um die Sechsfachmorde auf dem Einödhof in Hinterkaifeck zieht die Menschen wie ein Magnet an. Der Mythos ist seit 100 Jahren ungebrochen.
Es gibt Bücher, Filme, Tausende von Internetseiten, unzählige Hobbydetektive, Theorien und Verdächtige – nur eines nicht: den Beweis für den oder die Mörder. Und genau das, macht Hinterkaifeck zu einem der berühmtesten ungelösten Mordfälle in Deutschland.
Das ist bekannt: Die Bewohner von Hinterkaifeck, Andreas und Cäzilia Gruber, die verwitwete Tochter des Bauernehepaares, Viktoria Gabriel, und ihre beiden Kinder, die kleine Cäzilia sowie der zweijährige Josef, erleben Ende März 1922 unruhige Tage. Fußspuren im Schnee und Schritte auf dem Dachboden der Scheune beunruhigen sie – doch sie alarmieren nicht die Polizei. Am 31. März kommt noch die neue Magd an. Am Abend passieren dann wohl bereits die Morde. Irgendetwas lockt Viktoria im Dunkeln in den Stall. Dort wird sie zuerst gewürgt und schließlich erschlagen. Neun Schläge zertrümmern ihren Schädel. Als Mutter Cäzilia ihre Tochter sucht, wird auch sie im Stall getötet. Ebenso der alte Gruber und die kleine Cäzilia, die offenbar noch Stunden weiterlebt und im Todeskampf ihre Haare büschelweise ausreißt. Die Leichen im Stall werden mit einem Türblatt und Heu bedeckt. Anschließend geht der Mörder ins Haus und erschlägt den kleinen Josef und die Magd.
Niemand ahnt, welches Drama im Einödhof passiert ist. Auch nicht in den folgenden Tagen – obwohl Cäzilia am 1. April in der Schule fehlt und die gesamte Familie am 2. April beim Gottesdienst. Erst ein Monteur informiert den Ortsvorsteher Lorenz Schlittenbauer am 4. April, dass etwas im Hof nicht stimme. Dann werden die Leichen gefunden.
Ermittlungsfehler, zerstörtes Beweismaterial, fehlende Zeugenbefragungen, Ungereimtheiten: Die Liste der Versäumnisse ist lang. Es gibt Verdächtige, aber keine überführten Mörder. Ein Jahr nach den Morden wird der Hof abgerissen. Heute ist dort Ackerland. Nur ein Marterl erinnert an die Morde – das steht allerdings rund 150 Meter vom ursprünglichen Hofstandort entfernt. Doch das ist den meisten Neugierigen egal – der Mythos ist ungebrochen. Selbst 100 Jahre nach der schrecklichen Mordnacht.
Die Tatverdächtigen
Raubmörder: Die Bauersleute Gruber-Gabriel waren wohlhabend. Der Hof war abgelegen, rund 500 Meter Luftlinie zum Ort Gröbern. Ein Weg führte am Einödhof vorbei. Offiziell wertete die Polizei das Verbrechen auch als Raubmord.
Das spricht dafür: In Viktoria Gabriels Schlafzimmer wurden die Schränke durchwühlt und ein leerer Geldbeutel lag auf dem Bett.
Das spricht dagegen: Im Haus wurde weiteres Vermögen gefunden. Und: Hätte sich ein Raubmörder noch drei Tage lang am Hof aufgehalten, die Tiere versorgt und dort gelebt? Und hätte nicht auch der Hund bei einem fremden Menschen auf dem Hof laut gebellt?
Beziehungstäter: Die meisten Morde passieren aus einem Beziehungsgeflecht heraus. Und auch bei den Bauersleuten Gruber-Gabriel gab es zahlreiche Verstrickungen. Ortsvorsteher Lorenz Schlittenbauer soll eine Beziehung zu Viktoria Gabriel gehabt haben. Sohn Josef soll offenbar von ihm gewesen sein. Oder war dieser doch vom alten Gruber? Denn Andreas Gruber soll Inzest betrieben haben und er terrorisierte die gesamte Familie.
Das spricht dafür: Viktoria Gabriel wurde gewürgt und offenbar als erstes getötet, weil sie ganz unten lag. Das Tatwerkzeug, die Reuthaue, wurde offenbar im Affekt genommen. Die Tat war also nicht geplant. Die Würgemahle deuten also daraufhin, dass es zumindest zu einem Wortgefecht gekommen war.
Das spricht dagegen: Wenn tatsächlich nur Viktoria das Ziel gewesen sein soll, warum wurden dann die anderen Familienmitglieder inklusive der neuen Magd getötet? Lorenz Schlittenbauer galt als Hauptverdächtiger. Doch dieser litt an Asthma und galt als gebrechlich. Wäre ein solcher Mensch überhaupt in der Lage gewesen, die Familie so brutal zu erschlagen?
Zwei Mörder: Auch die Theorie von zwei Morden geht auf eine Beziehungstat zurück. Der alte Gruber soll in einem Art Amoklauf die Familie plus Magd ausgelöscht haben. Als die Nachricht im Ort Gröbern ankam, wurde Selbstjustiz geübt und der Gruber schließlich umgebracht.
Das spricht dafür: Andreas Gruber war vorbestraft, galt als jähzornig und brutal. Er wusste, wie man mit einer Reuthaue umgehen musste. Und Grubers Verletzung unterschied sich massiv zu den anderen Morden. Dazu wurde das Vieh versorgt und der Hund bellte nicht.
Das spricht dagegen: Der Postbote brachte am 1. April die Zeitung und die Post. Beides blieb unberührt und ungeöffnet am Fenster liegen. Und würde nicht jemand auch im Dorf im Laufe der folgenden Jahre in einer geselligen Runde darüber sprechen?
Weitere Theorien: Der Einödhof war ideal gelegen für Militär-Aktionen und Waffengeschäfte. Waren also im Hof solche Utensilien versteckt? Zu jener Zeit gab es auf ähnlich abgeschiedenen Höfen in Bayern häufiger Lager dieser Art. Oder nächtigten auf dem Dachboden heimlich Militärangehörige? Wollte der alte Gruber eventuell jemanden erpressen?
Das spricht dafür: Die Fußspuren im Schnee, die zum Stadl führen, aber nicht zurück. Die gefundene Zeitung aus der Münchner Region. Die von der Familie kommunizierten Schritte auf dem Dachboden.
Das spricht dagegen: Bei vergleichbaren Morden wurde nur derjenige getötet, der die Probleme verursachte. Eine Familie wurde dabei nie komplett ausgelöscht. Und: Würden der oder die Mörder dann nicht schnell wieder vom Hof verschwinden nach einer solchen Tat? Warum waren sie also noch drei Tage vor Ort?
Warum die Hoffnung auf diesem Jahr ruht
Im Alter von acht Jahren hat die Landkreisführerin Neuburg-Schrobenhausens, Maria Weibl, erstmals einen Roman über Hinterkaifeck gelesen. „Anschließend musste mein Vater immer im Zimmer nachschauen, ob sich nicht doch irgendwo der Mörder versteckt hat“, erinnert sie sich und lacht. Inzwischen sind etliche Jahrzehnte vergangen. Doch Hinterkaifeck hat sie nie losgelassen. Sie hat viele Theorien erfahren und gehört – aber sie hat trotzdem nicht die Hoffnung aufgegeben, den oder die Mörder zu finden.
Sie hofft inzwischen vor allem auf die Theorie einer Hellseherin. Die Frau, die 1993 im Alter von 83 Jahren starb, hätte so viele Dinge vorhergesagt, die eintraten. „Sie wusste, dass wir einmal von einer Frau regiert werden, dass ein Papst zurücktreten würde, von einer Pandemie hat sie erzählt, von einer großen Wirtschaftskrise und einer Völkerwanderung“, sagt die Landkreisführerin. Also alles Dinge, die Jahre später einmal passierten.
Weibl hätte dies alles fein säuberlich notiert – weshalb sie auch sehr neugierig auf dieses Jahr sei. Denn die Wahrsagerin hätte auch zu ihr gesagt, dass im 100. Jahr der Sechsfachmorde von Hinterkaifeck jemand sterben würde, der das Geheimnis der Morde aufdecken würde. Das fehlende Puzzlestück, das fehlende Indiz. „Vielleicht tritt dies jetzt auch ein“, hofft Weibl.
Aber wäre dies nicht das Ende des Mythos Hinterkaifeck? Weibl schüttelt mit dem Kopf. „Ich würde mich freuen, wenn man endlich den Namen des Mörders kennen würde“, sagt sie. Wen hält sie für den Täter? Weibl hat dabei ihre eigene Theorie: Es war jemand, der nicht aus dem Ort kam. Jemand Unbekanntes, jemand, der noch nicht in den ganzen Theorien namentlich genannt wurde. Alles andere würde für sie keinen Sinn ergeben.
Die Führungen
Die Landkreisführerin Neuburg-Schrobenhausens, Maria Weibl, kennt wohl fast schon jedes Sandkorn rund um Waidhofen. Seit etwa 16 Jahren zeigt sie an den Morden Hinterkaifecks interessierten Menschen die Gegend. Bis zu 150 Führungen sind es pro Jahr. Start ist die Kirche in Waidhofen. Dort, wo die Ermordeten ihre letzte Ruhestätte haben. Rund zweieinhalb Stunden dauert die Führung. Von dort führt die Route ein paar Meter an der Paar entlang, vorbei an Spargelfeldern nach Laag, weiter an einem Kieferwald in Richtung Gröbern, bevor man schließlich nach Westen zu einem Ackerfeld abbiegt. Dort stand einmal der Einödhof Hinterkaifeck, rund 500 Meter von Gröbern entfernt. An den Hof erinnert heute nur noch ein Marterl, das allerdings einige Meter vom eigentlichen Mordort entfernt aufgestellt wurde. Über Laag führt die Tour wieder nach Waidhofen zurück. Wer Interesse an einer Führung hat, erreicht Maria Weibl telefonisch unter (08252) 3422 oder per Mail unter maria_weibl@gmx.de.