DMMI: „Mit Geschrey den Scheintodten wecken“
Ein beruhigender Hinweis gleich vorneweg: Falls Sie einmal in einem Leichenkühlhaus aufwachen sollten und doch nicht tot sind, dann können Sie dank einer Notentriegelung dieser unangenehmen Situation aus eigener Kraft entfliehen. Der Türgriff zur Freiheit kann dank fluoreszierender Beschichtung nicht übersehen werden. Und genau solch ein Türschloss ist das erste Objekt, das der Besucher der Ausstellung „scheintot. Über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden“ im Deutschen Medizinhistorischen Museum zu sehen bekommt.
V.l.: Volker Böhm, Uta Bieger und Raik Evert (h neun, Berlin) mit Museumsdirektorin Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger
Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die 1850er Jahre war die Angst vor dem sogenannten „Scheintod“ in Deutschland weit verbreitet. Man könnte sogar von einer Hysterie sprechen, so die „Macher“ der Ausstellung Uta Bieger, Volker Böhm und Raik Evert (Büro für Wissensarchitekturen h neun, Berlin). Ihre Schau, die ihren Ursprung in einem studentischen Projekt hatte und nach Stationen in Kassel und Berlin nun erstmals in Süddeutschland zu sehen ist, befasst sich mit dem Aufkommen der „Scheintod-Hysterie“, die auch durch die Sensationspresse und die Literatur befeuert wurde, die Entstehung der Rettungsmedizin und die Versuche den Menschen wieder ins Leben zurück zu holen.
„Aufweckung des Gehörs – durch einen in die Ohren geblasenen Trompetenschall, grosses und oftmaliges Geschrey ins Ohr, besonders von einer Sache, die den Scheintodten sonst am aufmerksamsten macht, z.B. weckt den Geizigen Geschrey von Räubern, vielleicht das Scheppern von Geld.“ (Leopold Berchtold, 1791)
Vieles von dem, was vor 200 Jahren als neueste Heilmethode erachtet wurde, wirkt aus heutiger Sicht eher skurril. Aber die Frage nach dem Tod und seiner Endgültigkeit ist immer noch lebendig: „Das Interesse am Thema und das Mitteilungsbedürfnis der Besucher der bisherigen Ausstellungen war extrem groß. Das hat uns überrascht,“ erklärt Raik Evert. Vermutlich ist das in Ingolstadt nicht anders.
Wenn´s fault ist´s tot
Wann ist ein Mensch denn nun wirklich tot? Diese Frage trieb die Ärzte und Wissenschaftler am Ende des 18. Jahrhunderts um. Es war die Zeit der Aufklärung, in der man das Leben (und Sterben) nicht mehr als wundersam und gottgegeben ansah, sondern wissenschaftlich ergründen wollte und etwa in der Tierwelt „Beweise“ für einen Zwischenzustand fand (z.B. den Winterschlaf oder die Abwanderung der Zugvögel, die allerdings noch nicht erforscht war und man es für erwiesen hielt, dass die Tiere unter Wasser überwintern würden). Der Mensch könnte nun in einem solchen Zustand gefangen sein, meinten die Wissenschaftler und die Methoden, wie das Vorhalten eines Spiegels vor das Gesicht eines Menschen, um den Atmen zu registrieren, galten als nicht zuverlässig. „Die Todeszeichen sind nicht sicher. Nur mit dem Einsetzen der Fäulnis kann man sicher sein war fortan die Devise,“ erklärt Uta Bieger. Um das Einsetzen der Fäulnis zu gewährleisten, sind schließlich Leichenhäuser (nicht zu verwechseln mit heutigen Leichenschauhäusern) eingerichtet worden, in denen die Toten so lange aufbewahrt wurden, bis sie entweder wieder erwachten oder eben zu verwesen begannen. In solchen Häusern gab es auch Vorrichtungen, die Hände und Füße der Aufgebahrten durch Schnüre mit einem Glockensystem verbanden. Wenn sich jemand bewegte, klingelte es und speziell geschulte Wächter wurden alarmiert. „Bezahlt wurde mit Feuerholz, damit es der Wächter warm hatte, aber auch der Scheintote nicht erfror,“ erklärt Raik Evert.
Modell eines Sicherheitssargs
Das erste komplett als Leichenhaus konzipierte Gebäude ist 1792 in Weimar eröffnet worden, in München ist bereits kurz zuvor ein bestehendes Friedhofsgebäude zum Leichenhaus umfunktioniert worden. In Deutschland war es vor allem der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland ("Vom Gebrauch der elektrischen Kraft beim Scheintod" lautete der Titel seiner Doktorarbeit), der das Thema bis in die höchsten politischen Kreise verbreitete und dem die Einrichtung des Weimarer Leichenhauses zu verdanken ist. Sein Werk "Über die Ungewissheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel, sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen, und das Lebendigbegraben unmöglich zu machen" erschien 1791.
Nun war das Leichenhaus aber nicht jedermanns Sache und so war das Thema „Sicherheitssarg“ in der Zeit um 1800 sehr populär. Tüftler hatten sich unzählige Patente sichern lassen, in denen z.B. es um Klingel- oder Belüftungssysteme oder gar einen Selbstausstiegssarg ging. Einige davon sind in der Ausstellung (auch als nachgebaute Modelle) zu sehen. Und natürlich gab es auch diejenigen, die auf Nummer sicher gehen wollten – aber nicht, um am Leben zu bleiben, sondern definitiv tot zu sein. Hier hat man per Testament einen Herzstich verfügt, den der Arzt nach dem Tod des Menschen durchführte. Entsprechende Herzstichgeräte sind ebenfalls in der Ausstellung zu sehen.
Ein Leichenhaus auch in Ingolstadt
Weniger Preußen, mehr Bayern: Für die Ingolstädter Variante der Ausstellung ist der Blick zusätzlich auf den Süden Deutschlands gerichtet worden, etwa auf das bereits erwähnte Leichenhaus in München. 1863 wurde es übrigens als Reiseziel im Baedeker-Reiseführer empfohlen und die Eindrücke eines gewissen Mark Twain über dessen Besuch der „Sehenswürdigkeit“ sind in die Sonderausstellung mit eingeflossen. „Wir haben aber auch Originalunterlagen aus dem Ingolstädter Stadtarchiv, in denen man nachgedacht hat, ein Leichenhaus auf dem Friedhof zu bauen.Und es ist auch im frühen 19. Jahrhundert errichtet worden,“ so Museumsdirektorin Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger. Außerdem ist in der Ausstellung auch von einem jungen Ingolstädter zu hören, der 1791 wegen „völliger Körperstarrheit“ für tot befunden wurde. Allerdings nahm er alles, was um ihm herum passierte wahr. Ins Leben zurück brachte ihn das eiskalte Weihwasser, mit das man sein Gesicht besprengte.
Im Begleitprogramm werden Führungen durch die Ausstellung und den Arzneipflanzengarten, Mittagsvisiten und Abendveranstaltungen angeboten. Das Themenspektrum reicht dabei von der Scheintod-Debatte um 1800 und ihrem literarischen Niederschlag bis zur modernen Hirntod-Definition. Die Ausstellung dauert noch bis 30. September 2020. Infos unter www.dmm-ingolstadt.de