Altstadttheater Open Air: „Kurzschluss“ – und plötzlich ist nichts mehr, so wie es war
Leni Brem-Keil bringt in ihrem diesjährigen Freilichttheaterstück die Geschichte des hippen Ehepaars Neta und David auf die Bühne. Beide sind sehr erfolgreich: Sie arbeitet als Ernährungsberaterin, er ist ein gefeierter Kinderbuchautor, der spontan in der Notaufnahme den „Super-Doktor“ für seinen kleinen Sohn Itamar erfunden hat – einen Helden, der bei Krisen immer sofort zur Stelle ist. Itamar, der größte Fan des „Super-Doktors“, geht nirgendwohin ohne seinen Super-Umhang.
Die Familienidylle bekommt einen Riss, als David während eines Vortrags den Anruf seiner Frau erhält: Sie kommt nicht nach Hause, sondern fährt mit dem Zug weiter nach Norden. Für David beginnt ein Stress-Marathon. Das Publikum erlebt hautnah, wie er nicht nur die beiden Kinder versorgen, sondern auch noch aus den Zuschauerreihen Statisten und Unterstützer rekrutieren muss. Gleichzeitig hetzt er unzählige Male die Feuertreppen rauf und runter, um die Situation irgendwie in den Griff zu bekommen.
Nach und nach entfaltet sich die Situation, vor der Neta sich mit ihrer Auszeit flüchtet: Itamars Kindergärtnerin hat wegen seines auffälligen Verhaltens Alarm geschlagen. Nach zahlreichen Sitzungen steht schließlich fest: Itamar ist Autist. Die Eltern gehen mit der Diagnose sehr unterschiedlich um – Neta glaubt ihren Sohn durch ständige Übungen fördern zu können, während David die Situation bagatellisiert. Das stellt ihre Beziehung vor eine enorme Belastungsprobe: als Paar und als Eltern. Es kommt sogar zu verbalen Entgleisungen.
Das Stück bringt das Thema Autismus, die Auswirkungen sowie Bedeutung, was es heißt plötzlich „im Spektrum“ zu sein, sensibel nahe. David spricht das Publikum direkt an und regt es zum Nachdenken an: Was würde man bevorzugen, wenn man wählen könnte – ein autistisches Kind oder eines mit „hundertprozentigem Potenzial“?
Wie intensiv sich die Autorin mit dem Thema beschäftigt hat, zeigt besonders die Abschlussszene: Die Eltern lesen im Tagebuch der großen Schwester, dass sie davon träumt, am Ende wenigstens die Abschlussworte sprechen zu dürfen, weil sie selbst nur eine winzige Rolle im Stück hatte. Damit sensibilisiert die Autorin auch für die schwierige Situation der Geschwisterkinder, die wegen der Sorge um das betroffene Kind fast völlig aus dem Blickfeld geraten.
Die israelische Autorin Noah Lazar-Keinen schafft es, das Publikum interaktiv einzubeziehen. Dadurch wird es Teil der Inszenierung – und gleichzeitig sorgt dieser Kunstgriff dafür, dass rührende Szenen immer wieder mit Situationskomik aufgelockert werden. Keine Aufführung gleicht dadurch gänzlich der anderen.
Greta Lindermuth zeichnet überzeugend eine sensible Neta, die glaubt, alles im Griff zu haben, während ihr das Leben entgleitet. In einem Luxushotel blüht sie schließlich auf und gibt, beschwipst, einem feiernden Brautpaar Ratschläge. Jörn Kople überzeugt mit seiner Vielseitigkeit: Er muss nicht nur atemlos versuchen, alles unter Kontrolle zu behalten, sondern gleichzeitig auch Mitspielende aus dem Publikum auswählen und motivieren.
Leni Brem-Keil hat mit „Kurzschluss“ ein herausragendes und ungewöhnliches Theaterstück für ihre Freilichtaufführung ausgewählt, das in Israel längst ein Hit ist. Auch bei der Besetzung der beiden Hauptrollen hat sie wieder ein geschicktes Händchen bewiesen. Das Publikum feierte diese unterhaltsame und zugleich informative Aufführung zu Recht mit stürmischem Beifall. Absolute Empfehlung! (HaGa)